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Arnold Toynbee

»Zivilisationen
sterben nicht,
sie begehen Selbstmord.«

Leitartikel
2006 im Blick

Prüfsteine und Stolpersteine


Von Jürgen Liminski
An der Schwelle des neuen Jahres darf man trotz des überschwänglichen Lobs in den Parteien für die große Koalition und insbesondere die Bundeskanzlerin die Frage stellen, wie es denn nun weitergehen könnte. Auf internationalem Parkett kann Frau Merkel derzeit wenig falsch machen. Die wahren Prüf- und Stolpersteine des Jahres 2006 werden innenpolitischer Natur sein.
Dabei wird man sich über die wirklich wichtigen Fragen - Lebensschutz, aktive Sterbehilfe, Familie - in der großen Koalition rasch einig sein. Wenn es in dieser Regierung Männer gibt, die gegen das verhängnisvolle Töten unschuldiger Kinder im Mutterleib etwas unternehmen wollten, dann stehen sie nach Lage der Dinge auf verlorenem Posten. Beim Thema Familie sind die Differenzen hinter dem Komma zu suchen, auch wenn sie mit Getöse vorgetragen werden.
Bei der Rente wird man vermutlich einknicken, den Sozialverbänden nachgeben und einige Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag schlicht ruhen lassen. Die Wählergruppe der Alten ist für beide Parteien zu wichtig, und schon die Beibehaltung der Regel, wonach die 58jährigen nicht unter die Hartz-IV-Guillotine fallen, zeigt an, dass den Regierungsparteien die älteren Generationen wichtiger sind als die jüngeren.
Man wird also im anstehenden Jahr den Beitragssatz für die Rente erhöhen in der Hoffnung, dass die von allen erwartete Aufschwungphase die gute Laune nicht verdirbt. Zwar wird der Aufschwung nicht zu einem nennenswerten Aufschwung am Arbeitsmarkt führen, aber die Arbeitslosen zahlen ohnehin keinen Rentenbeitrag.
Apropos Arbeitslose und Hartz IV: Auch hier wird man sich noch einigen können. Aber die Reformen waren handwerklich so schlampig angefertigt, dass kundige Leute rasch die Lücken entdeckten - und auch nutzten.
Anders sieht es aus bei Pflege und Gesundheit. Hier geht es vorwiegend um die ältere Generation. Kinder sind im Gesamttableau ein kleiner Posten. Deshalb werden alle zuständigen Politiker in Spendierpose und mit Blick auf die rapide Alterung der Gesellschaft die kostenlose Mitversicherung von Kindern fordern und sich damit brüsten.
Wie aber Bürgerversicherung und Prämienmodell zusammenpassen sollen, ist vorerst noch ein Geheimnis. Beide Konzepte sind so stark ideologisch geladen, dass keine Partei zugunsten der anderen darauf verzichten kann. Man wird einen dritten Weg suchen und dann als das alte Modell verkaufen.
Zivilisationen sterben nicht, sie begehen Selbstmord, meinte drastisch der Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee. Im Falle Deutschlands nimmt der schleichende Selbstmord die Form des Selbstbetrugs an. Dass das wahre Schlüsselproblem, die demographische Zukunftsfrage, nicht gelöst, sondern im Gegenteil verschärft wird, könnte dereinst das fatale Erbe dieser großen Koalition sein. Womöglich stolpert sie gar über diesen Prüfstein.

Artikel vom 30.12.2005