31.12.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Deutschland in der globalen Wirtschaft

Export-Weltmeister und
»rote Laterne«

Die Nachricht schien im vergangenen Sommer wie für den damaligen Bundestagswahlkampf gemacht: Wir sind wieder Export-Weltmeister. Will jemand einer so erfolgreichen deutschen Arbeitnehmerschaft nach Hartz I bis IV noch weitere Einschränkungen zumuten?


Ob sie es wollen, sei dahingestellt. Sie taten es jedenfalls auch im Jahr 2005.ÊUnternehmer, Politiker -Êalle forderten, die Deutschen müssten das soziale Netz abbauen und die Löhne reduzieren. Nichts war's mit Weltmeister-Jubel schon ein Jahr vor der Fußball-WM. Es gibt andere Tabellen als die Export-Statistik, die zeigen Deutschland als Träger der roten Laterne. Letzter in der Europäischen Union beim Wirtschaftswachstum. Letzter im Schaffen neuer Arbeitsplätze.
Einer gießt mit besonderer Regelmäßigkeit Wasser in den Exportweltmeister-Freudenbecher: Hans-Werner Sinn, Leiter des Münchner Ifo-Instituts, hat Spaß am Provozieren. Seinem 2004 erschienenen Standardwerk »Ist Deutschland noch zu retten?« schickte er in diesem Jahr einen weiteren Bestseller hinterher: »Die Basar-Ökonomie«.
Deutschland sei, sagte Sinn, als Export-Champion Opfer einer falschen Etikettierung. Auf der Ware stehe zwar weiterhin »made in Germany«. Doch drinnen steckten immer mehr Zulieferteile aus Osteuropa und aus Fernost. Und nur wegen dieser Importe, die nach dem Einbau in eine Maschine, in ein Automobil oder ein Möbelstück wiederum zu Exporten werden, gebe es in Deutschland überhaupt noch Arbeitsplätze.
Geht es in einer deutschen Fabrik also tatsächlich zu wie auf einem orientalischen Basar?
Dies würde jedenfalls erklären, warum es den Export-Unternehmen in Deutschland vergleichsweise gut geht, während sich unter den Beschäftigten die Befürchtung breitmacht, sie könnten als nächste ihren Arbeitsplatz verlieren.
Auf Dauer kann allerdings ein Basar ohne industriellen Hintergrund kaum überleben. Das sagt auch Sinn. Er fordert deshalb eine radikale Wende bei den Löhnen der Arbeitnehmer und bei den Sozialabgaben der Arbeitgeber. Von Gabor Steingart übernimmt er das Bild von der Industrie als verglühendem Kern der deutschen Wirtschaft. Der Kern erkalte und mit ihm versiegten allmählich die äußeren, von ihm abhängigen Aktivitäten.
»An der Industrie hängt unser Wohlstand«, folgert Sinn. Die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Staat seit 35 Jahren kontinuierlich zunimmt, ist mindestens ein Indiz, dass der Ifo-Chef recht haben könnte.
Trotzdem gibt es nicht nur Gewerkschaftler, sondern auch Wissenschaftler, die ihm widersprechen. Sie verweisen beispielsweise auf die jungen Bundesländer, wo trotz immer noch niedrigerer Löhne und Gehälter die Arbeitslosigkeit noch höher ist als im Westen. Deutschland leide nicht so sehr unter den Lohnkosten als unter dem Mangel an Nachfrage. Wie weiland schon John Maynard Keynes lehrte, müsse zur Überwindung der Krise und vor allem der Massenarbeitslosigkeit die Konjunktur angekurbelt werden. An dieser Stelle ist es eine Frage des Geschmacks, ob das Geld durch staatliche Investitionsprogramme oder, wie es die Gewerkschaften fordern, durch höhere Löhne in Umlauf gebracht werden soll.
Beide Interpretationsmuster sind nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Der ängstliche Deutsche fragt sich natürlich, wie die schiefe Lohnkostenstruktur in Sinns Basar-Ökonomie je wieder für den deutschen Arbeitnehmer noch tragbar ausgeglichen werden kann. Denn natürlich gibt es keine Garantie, dass das Ausland nicht reagiert und die Löhne noch weiter senkt. Bei diesem globalen Monopoly bliebe für die deutschen Arbeitnehmer nur das sturzhafte Abgleiten auf einer Spirale nach unten.
In dieser Stituation greift man gerne nach dem Strohhalm. Dass die Produktivität in Deutschland größer sei als andernorts -Êdieses Argument verfängt zwar immer weniger. Aber es gibt auch noch andere Standortfaktoren, die berufliche Bildung zum Beispiel und dem hohen Stand der wirtschaftsnahen Forschung. Die gute Infrastruktur und die Rechtssicherheit lernen Unternehmer oft erst schätzen, wenn sie im Ausland nicht mehr so selbstverständlich darüber verfügen.
Auch Zuverlässigkeit und Flexibilität der Beschäftigten sind Faktoren, die man zwar schwer berechnen kann, die aber gleichwohl für den wirtschaftlichen Erfolg wichtig sind -Êvon der Kreativität der Mitarbeiter ganz zu schweigen.
Man muss nicht das Orakel befragen, um vorauszusagen, dass die Diskussion, wie Deutschland aus der wirtschaftlichen Stagnation und psychischen Depression herausfindet, auch 2006 weitergehen wird. Man muss Sinns These von der »Basar-Ökonomie« nicht in jedem Detail folgen. An der Grundbeschreibung aber kommt man nicht vorbei. Mal sehen, wie lange wir wenigstens im Export den Weltmeistertitel noch behalten!

Ein Beitrag von
Bernhard Hertlein

Artikel vom 31.12.2005