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Pro Tag 80 kleine »Glücksmomente«

Hochbetrieb bei der Bahnhofsmission

Bielefeld (WB). Anna W. strahlt. Dankbar winkt sie Marcel Bohnenkamp, dem 34-jährigen Leiter der Bielefelder Bahnhofsmission, ein letztes Mal zu, als sich die ihr Zug in Richtung Detmold in Bewegung setzt.
Die gehbehinderte 82-Jährige aus dem westfälischen Soest hatte sich aufgemacht, zum Weihnachtsfest Enkel und Urenkel in Detmold zu besuchen, und sich vielleicht doch ein wenig zu viel zugemutet: Als sie auf dem Bielefelder Hauptbahnhof vom ICE auf die Nordwestbahn umsteigen musste, wusste sie nicht mehr ein noch aus, hatte völlig die Orientierung verloren. Bohnenkamp und seine Mitarbeiter hatten Anna W. helfen können, ihren Anschlusszug noch rechtzeitig zu erreichen. Sie sprachen die offensichtlich Rat suchende ältere Dame an, geleiteten sie zum richtigen Bahnsteig und halfen ihr beim Einsteigen. Einem wunderschönen Weihnachtsfest im Kreise ihrer Familie stand nichts mehr im Wege.
Bohnenkamp mag diese „kleinen Momente“ ganz besonders: „Wenn ich dieses zufriedene Gesicht und die Hand sehe, die mir aus dem Zugabteil freundlich zuwinkt, dann weiß ich, dass sich dieser Tag wieder einmal gelohnt hat. Dann habe ich überhaupt kein Problem mehr damit, dass bei uns gerade immer die Tage besonders stressig sind, an denen andere Menschen mit Vorliebe verreisen.“ Die Bielefelder Bahnhofsmission wird gemeinsam vom Evangelischen Gemeindedienst im Ev. Johanneswerk und der Caritas getragen. Bohnenkamp: „Wir wollen den kirchlichen Auftrag am Bahnhof erfüllen und sozialen Beistand leisten, wo immer er gebraucht wird.“
An den klassischen Reisetagen - und dazu gehören auch Feiertage wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten - haben Marcel Bohnenkamp und seine elf ehrenamtlichen Mitarbeiter alle Hände voll zu tun: „Das geht von der Hilfe beim Ein- oder Umsteigen für ältere oder behinderte Fahrgäste über die Betreuung allein reisender Kinder bis hin zur Versorgung bedürftiger Reisender mit Speisen und Getränken.“ Das Team der Bielefelder Bahnhofsmission bringt zum Beispiel jeden Tag rund 60 belegte Butterbrote an die Frau oder den Mann. Jeden Tag stehen die Mitarbeiter der Bahnhofsmission von 7 bis 19 Uhr in zwei Schichten bereit, um in allen Notlagen zu helfen.
Die Zahl der vielfältigen Hilfeleistungen summiert sich so im Laufe eines Jahres auf rund 30.000, das sind über 80 an jedem Tag des Jahres; an Werktagen ebenso wie an Sonn- und Feiertagen.
Und manchmal wird aus einer flüchtigen Bekanntschaft dann doch etwas Dauerhaftes. Vor zwei Monaten bat ein körperbehinderter, mittelloser und ausgesprochen hungriger Fahrgast die Mitarbeiter der Bahnhofsmission um Hilfe. Der obdachlose Hamburger war auf der Durchreise nach Frankreich, um hier sein Glück zu versuchen.
Mittlerweile ist er in Bielefeld sesshaft geworden und hat sein Leben wieder im Griff. Und immer wieder schaut er mal herein bei der Bielefelder Bahnhofsmission, die ihm geholfen hat, wieder Fuß zu fassen.

Artikel vom 28.12.2005