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Matthias Claudius

»Niemand ist
wirklich frei, der nicht über sich selbst Herr ist.«

Leitartikel
Freiheit, Eigenveranwortung

Heute so
und
morgen so


Von Rolf Dressler
Nein, nein, Deutschland ist nicht schlicht perplex. Seine Menschen mucken nur deshalb nicht auf, weil man ihnen zwei, drei Jahrzehnte lang so allerlei vom rot-grünen Pferd erzählt hat. Dieses Köpfeverdrehen zeigt Wirkung, treibt bisweilen groteske Blüten. Als Hausmittel dagegen kann ein nachsichtiges Lächeln oder ein befreiendes Lachen empfohlen werden. Das verheißt zumindest Linderung.
Doch halt, was SPD und Grüne in ihren sieben Berliner Regierungsjahren an Gesellschaftsveränderungsenergie aufzubieten hatten, das ist offenbar auch so manchen namhaften Christlichen Demokraten nicht fremd.
Den neuesten Nachweis dafür lieferte die von der CDU geführte Regierung des Saarlandes, flankiert von Bundesgesundheitsministerin Ursula von der Leyen und Baden-Württembergs Ministerpräsident Günter Oettinger. Letzterer hatte unlängst - verdientermaßen - ein deftig kritisches Presse-Echo auf sich gezogen für seinen denkwürdigen Vorstoß, wonach bereits die Arbeitnehmer-Generation »40 plus« bei sinkenden Gehaltsbezügen deutlich länger als nur bis zum Endalter 65 werktätig bleiben müsse.
Nun also wollen ausgerechnet auch CDU-Politiker der Obrigkeit Aufsicht und sogar Regelüberwachungsaufgaben in dem intimsten persönlichen Bereich, nämlich dem von Eltern, Kindern und Familie übertragen. Ein vordergründig wohlmeinender Ansatz, denn wer schon wollte ernsthaft etwas dagegen einwenden, dass man Misshandlungen von Kindern in deren eigenem Familienumfeld aufspürt und ein Ende setzt?
Nur leider ist dieser Einfall nicht zu Ende gedacht. Denn:
- Wer im realen Alltagsleben soll Eltern »behördlich« dazu zwingen, ihr(e) Kind(er) halbjährlich regelmäßig bei einem Arzt vorzustellen und nach Spuren von Gewaltanwendung pflichtuntersuchen zu lassen?
- Wem muss der Vertrauens-arzt (?!) seine Erkenntnisse weitermelden?
- Wer erstattet im Falle des Falles Anzeige gegen tatverdächtige Familienangehörige?
- Wie und auf wessen womöglich sogar denunziatorische (Falsch-)Hinweise hin will der Staat »soziale Problemfamilien« überhaupt orten?
Politiker, die solche abwegigen Überlegungen hegen, fechten zugleich leidenschaftlich für die Privatisierung von Gefängnissen oder wollen die Betreuung psychisch kranker Straftäter lieber heute als morgen privaten Einrichtungen übertragen. Je weniger Staat, desto besser - das »predigen« sie einerseits. Andererseits aber gilt, wie man staunend sieht, urplötzlich das genaue Gegenteil.
Derweil betäuben Alt-Ideologen das Volk noch immer: Das herkömmliche Familien-Modell sei angeblich auf ganzer Linie gescheitert, demographisch, finanziell und kulturell. So etwas färbt ab. Sogar bis in die Köpfe von CDU-Politikern und anderen sonst so eifrigen Verfechtern von Freiheit und Eigenverantwortung in Familie und Beruf.

Artikel vom 29.12.2005