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Nach dem Tsunami kam die Angst vor dem Meer

Hilde Tomkel hat vor einem Jahr zwei Angehörige verloren

Von Christian Althoff
Rödinghausen (WB). Ihre Kinder haben ihr gerade einen Terrier-Mischling geschenkt. »Damit ich abgelenkt werde und nach draußen komme«, sagt Hilde Tomkel (72) aus Rödinghausen im Kreis Herford. Sie hatte vor einem Jahr ihren Bruder Georg Dobler und dessen Frau Erika verloren, die in Sri Lanka Opfer des Tsunamis geworden waren.
Auf dem Friedhof von Matara entzünden zwei Kinder Kerzen am Grabstein des deutschen Ehepaares.
»Mein Leben lang war ich eine Wasserratte«, erzählt die vitale Rentnerin. Doch seit die gigantische Flutwelle ihr am 26. Dezember 2004 die beiden Angehörigen genommen hat, ist das anders: »Seit Jahren mache ich mit einer Freundin Urlaub in der Türkei. Als wir im Sommer wieder dort waren, habe ich mich die ersten drei Tage überhaupt nicht an den Strand getraut«, erinnert sich die 72-Jährige. Im Frühstücksraum habe sie sich so hingesetzt, dass sie das Meer nicht sehen musste, und als sie sich endlich ans Wasser gewagt und dort hohe Wellen erlebt habe, sei sie hilfesuchend zum Bademeister gelaufen: »Ich habe ihn gefragt, ob es dort auch zu einer solchen Flut kommen kann.« Damals sei sie krank aus dem Urlaub zurückgekehrt, erzählt die Rödinghausenerin.
Georg (72) und Erika Dobler (77) liebten Sri Lanka seit den 70er Jahren. Sie hatten zuletzt die Wintermonate regelmäßig in Matara verbracht und wohnten dort in einer Pension am Strand. »Augenzeugen haben uns später berichtet, dass die beiden von der Welle förmlich erschlagen worden sind«, erzählt Hilde Tomkel. Dem Umstand, dass das Paar seit Jahren in dem Ort bekannt war, hatten es die Angehörigen zu verdanken, dass die Toten schon am 4. Januar identifiziert worden waren. Ihrem Wunsch entsprechend waren Erika und Georg Dobler in Sri Lanka eingeäschert und bestattet worden. Ein junger Einheimischer, der den beiden Deutschen seit langer Zeit zur Hand gegangen war und sie Mama und Papa genannt hatte, hat inzwischen einen Stein auf ihrem Grab aufstellen lassen und den Hinterbliebenen ein Foto davon geschickt. »Ich könnte es nicht ertragen, nach Sri Lanka an ihr Grab zu reisen«, sagt Hilde Tomkel. »Das Foto gibt mir aber zumindest das Gefühl, dass Erika und Georg ihre Ruhe gefunden haben.«
Ein Jahr nach der Katastrophe, die mehr als 220 000 Menschen das Leben gekostet hat, hat Hilde Tomkel kaum Abstand gewonnen. »Es gibt Tage, da wirst du die Gedanken daran einfach nicht los«, sagt sie. Besonders die Zeit vor dem Jahrestag, in der die Jahrtausendflut immer wieder im Fernsehen und in den Zeitungen präsent war, sei für sie belastend gewesen: »Ich vermeide es, solche Berichte zu sehen und verdränge die bösen Gedanken so gut es geht.« Mit dem Verdrängen habe sie Erfahrung, erzählt die 72-Jährige, die als Elfjährige mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen war. »Das war so schrecklich, dass ich mein Leben lang nichts von Vertreibung hören oder sehen wollte«, sagt sie. Erst in den letzten Jahren habe sie sich erstmals Dokumentationen über die Flüchtlingstrecks im Fernsehen ansehen können: »Es hat 60 Jahre gedauert, bis ich den notwendigen Abstand hatte.«
Diesmal will Hilde Tomkel, die seit zehn Jahren ihren kranken Mann versorgt, das Geschehen schneller verarbeiten. Sie ist deshalb im Herbst mit ihrer Nichte erneut in die Türkei geflogen. »Da habe ich den Anblick des Meeres und seiner Wellen schon viel besser weggesteckt als im Sommer«, erinnert sich die Rentnerin. Auch ärztliche Hilfe, die sie unmittelbar nach dem Tsunami noch abgelehnt hatte, hat Hilde Tomkel inzwischen in Anspruch genommen. »Sonst frisst dich die Grübelei von innen auf.«

Artikel vom 27.12.2005