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Der Tag, an dem ihnen
alles genommen wurde

Schmerz sitzt bei den Hinterbliebenen immer noch tief

Von Frank Brandmaier
Banda Aceh/Phuket (dpa). Für Rohani war es der Tag, an dem ihr alles genommen wurde. »Ich bin verzweifelt«, sagt die 50-Jährige, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Meine Familie wurde so schnell von mir fortgerissen, und jetzt bin ich ganz allein.«

Genau ein Jahr nach dem Horror der Flut sitzt Rohani vor der Moschee in Banda Acehs Stadtteil Ulee Lheue, wo der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 keinen Stein auf dem anderen ließ, zusammen mit anderen Überlebenden und trauert um die Toten. Dann wirft sie plötzlich die Arme Richtung Himmel und ruft: »Ich bin sicher, dass meine Kinder noch irgendwo am Leben sind.« Tausende Eltern hoffen wie Rohani auch ein Jahr nach der Tragödie auf nichts geringeres als ein Wunder.
Der Schmerz sitzt noch tief bei den Hinterbliebenen, ihre Worte und Gesten während der gestrigen Gedenkfeiern lassen keinen anderen Schluss zu. Als während der offiziellen Zeremonie in Banda Aceh um 8.16 Uhr Ortszeit eine Sirene genau zu jenem Zeitpunkt heult, als vor einem Jahr die Riesenfaust des Wassers dort niederging, schämen sich die Ehrengäste nicht, wenn sie weinen. In Thailand halten sich Angehörige, viele davon eigens angereist aus Europa, in ihrer Trauer aneinander fest. Meist herrscht Schweigen.
Auch auf der anderen Seite des Ozeans, in Sri Lanka, suchen die Überlebenden Halt bei anderen und die Nähe zu den Toten: Familien sammeln sich um Massengräber, umarmen sich. Mag der Alltag während der vergangenen Monate geholfen haben, die Wunden ein wenig zu heilen - an diesem ersten Jahrestag scheinen sie wieder aufzubrechen.
Und manches Mal mischt sich auch blanke Wut in den Schmerz: Zahlreiche von der Flut betroffene Thailänder boykottierten die offiziellen Gedenkfeierlichkeiten - weil sie sie für Verschwendung von Geld halten, das ihrer Ansicht nach besser für die Unterstützung von Überlebenden verwendet wäre. »Ich habe bis jetzt noch kein Geld bekommen«, klagt die 47-jährige Bahjaree aus dem Fischerdorf Ban Nam Khem, dem die Flut fast Dreiviertel seiner 4000 Einwohner raubte. »Und ich habe noch immer nicht verstanden, wer was bekommt und warum«, sagt die Frau, die vier Verwandte in der Welle verlor.
Für Zehntausende ist es wie beispielsweise in Aceh auch ihr Dasein in Barracken und Zelten, das sie jeden Tag an die Katastrophe und den Verlust geliebter Menschen erinnert. Der Weg zurück in ein Leben mit einem Dach über dem Kopf und einem Auskommen ist noch für viele weit: Nach Angaben der indonesischen Wiederaufbauagentur BRR wurden bislang 16500 Häuser errichtet. 120000 werden gebraucht. Häufig ist wachsender Unmut zu hören von jenen, die bislang leer ausgingen. Doch verweisen Helfer immer wieder auf ungeklärte Landfragen und logistische Probleme als Gründe für Verzögerungen. Das Ausmaß der Zerstörung sei einfach zu gewaltig, heißt es immer wieder.
Nach der Gedenkzeremonie in Banda Aceh wird Rohani, die ihre Familie in der Flut verlor, mit einem Male nachdenklich. »Ich habe mein Bestes gegeben, um meine Kinder wiederzufinden«, sagt sie leise. »Aber nach all der Zeit beginne ich zu spüren, dass ich vielleicht nicht mehr die Gnade erleben werde, sie wiederzufinden.«

Artikel vom 27.12.2005