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Fortsetzung von Seite 8

Nur wenige Monate später, so berichten Insider vorsichtig und hinter vorgehaltener Hand, soll im Vatikanschon mal Kritik daran laut geworden sein. »Grenzwertig« seien die letzten Auftritte des alten Mannes gewesen.
Niemand hat sie zählen können, aber vermutlich waren es fünf Millionen Menschen, die sich auf die Todesnachricht hin auf den Weg in die ewige Stadt machten.
»Was war da nur los in diesem sonderbaren Frühling dieses Jahres 2005?«, fragt Papstbiograf Alexander Kissler fast ratlos in seinem Buch »Der deutsche Papst« (Herder-Verlag). Die Massen, meist junge Leute mit guten Manieren, campierten unter freiem Himmel. Die Stadtverwaltung schickte Lastwagen mit Wassertanks, die Jugend wusch sich bei milden Temperaturen im Freien, lachend.
Stundenlanges Anstehen, die Bereitschaft mitzuleiden und die Bitterkeit des Abschieds zu verarbeiten, das war Trauerarbeit, weltöffentlich und massenhaft wie im Abendland lange nicht mehr gesehen. Wer am Leichnam von Johannes Paul II. im Petersdom vorbeiziehen wollte, musste bis zu 20 Stunden warten. Bei aller Bestürzung schwang das Glück der Gläubigen mit, Großes miterleben zu dürfen.
Die medialen Schnellerklärer nannten es die Fähigkeit der zweitausendjährigen Kirche, sich zu inszenieren. Eine Milliarde Menschen blickt auf die Realität: ein Holzsarg, der schlichter nicht sein könnte, mit einer Bibel darauf, in deren Seiten der Wind spielt.
In die Bilder des Abschieds trat ein vielen Katholiken zu diesem Zeitpunkt noch unbekannter glaubensstrenger deutscher Kardinal, der mit sanfter, fast singender Stimme über den verstorbenen Vater auf Erden sprach: »Wir können sicher sein, dass unser geliebter Papst jetzt am Fenster des Hauses des Vater steht und uns sieht und uns segnet.«
Der als Dogmatiker, bayerischer »Panzergeneral« und Glaubenwächter verkannte Zeremonienmeister des Übergangs verschwand wie 114 andere Kardinäle im Konklave.
Weißer Rauch kündigte am 19. April kurz vor 18 Uhr einen gewandelten deutsch-römischen Kirchenmann an, der als Benedikt XVI. auf den Balkon am Petersdam trat. Kardinal Joseph Ratzinger war mit 115 Stimmen zum Papst gewählt worden.
Der Kölner Kardinal Joachim Meisner war sofort voll des Lobes, Benedikt XVI. sei die kongeniale Wiedergeburt Johannes Pauls II. »Die Kontinuität auf dem Papstthron ist am vollkommensten«.
Andere waren erst verhaltener, ihre Sorgen jedoch unberechtigt. Bis heute ist der unterschwellig unterstellte Rückfall noch hinter die ohnehin schon konservativen Positionen des Vorgängers ausgeblieben.
Im Gegenteil: Wann immer Benedikt XVI. sich äußert, über Lebensschutz, Gentechnologie oder Sterbehilfe spricht, erst einmal ist dann genaues Zuhören und Wägen seiner Worte angesagt. Das vorschnelle Abwinken, wie früher in bestimmeten Kreisen gerne geübt, findet, zumindest derzeit, nicht mehr so einfach statt.
Ganz wesentlich zum neuen Blick auf Benedikt hat der Weltjugendtag vom 18. bis 21. August in Köln beigetragen.
Der Deutschlandbesuch werde zum Portal, durch das der neue Papst sein Amt antrete, hatte Heiner Koch, Generalsekretär des Jugendtreffens und Seelsorgedirektor des Erzbistums Köln, vorausgesagt - und er behielt recht.
Vorweg-Gastgeber war neben anderen auch das Erzbistum Paderborn. Mit lautstarkem Sacro-Pop und stillem Gebet, 150 Ständen an »Meilen« der Spiritualität, Kultur und des Engagements war die Innenstadt von Paderborn am Wochenende davor zentraler Sammelpunkt auf dem Weg nach Köln. 120 000 Jugendliche aus mehr als 160 Ländern waren zu Gast in die 27 deutschen Diözesen. Allein ins Bistum Paderborn kamen 10 000 junge Gäste aus 60 Nationen.
Die Tage von Köln waren geprägt vom Bad in der Menge, einem Synagogenbesuch und der Begegnung mit einzelnen jungen Leuten, darunter Anna Herbst (19) aus Fürstenberg im Kreis Paderborn. Sie durfte im kleien Kreis mit dem Heiligen Vater zu Mittag essen und war danach gleichermaßen begeistert wie bewegt.
Die Jugendlichen aus aller Welt jubelten, schwenkten Fahnen, hielten Kerzen in den Händen. Je öfter sie dem neuen Papst begegneten, je häufiger er zu ihnen sprach, desto klarer wurde: Benedikt XVI. ist ganz anders als sein Vorgänger.
Am deutlichsten war dies auf dem Marienfeld zu spüren - einer riesigen Ebene westlich von Köln. Eine Million Menschen feierte dort den Abschlussgottesdienst- zwölfmal soviel wie bei der Papstmesse 1996 in der Senne bei Bad Lippspringe.
Der dreistündige Gottesdienst war auch ein zutiefst kontemplatives Erlebnis, mitnichten nur schreiendes Rock-Event. Der Pilgerzug zum Messegelände, mehr noch die Heimreise von dort zurück in alle Welt wurde zu einer physischen Probe für die Gläubigen. Sie haben sie bestanden und längst vergessen. Geblieben ist die Erinnerung an die Wiederentdeckung einer alten Frömmigkeit mit einem neuen Papst.

Ein Beitrag von
Reinhard Brockmann

Artikel vom 31.12.2005