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Geisel zweiter Klasse im Vorteil

Vermutlich kriminelle Entführer nennen sich »Sturmtruppe der Erdbeben«

Von Anne-Beatrice Clasmann
Kairo (dpa). Es könnten fanatische Islamisten, skrupellose Wegelagerer oder Anhänger des alten Regimes von Saddam Hussein sein, die Susanne Osthoff samt Fahrer drei Wochen lang in ihrer Gewalt hatten.
Das Bangen hat ein Ende: Ingrid Hala, die Mutter von Susanne Osthoff, verfolgt am Fernseher die freudige Nachricht. Sie hofft, ihre Tochter schon bald wieder in die Arme schließen zu können.Fotos: dpa

Doch ein Indiz dafür, dass die 43 Jahre alte Deutsche nun von der Bundesregierung durch Verhandlungen den Fängen einer straff organisierten islamistischen Terrorgruppe entrissen wurde, fehlte am Tag nach ihrer Befreiung.
Wahrscheinlicher ist, dass sie entweder Lösegelderpressern oder aber Anfängern aus der radikalen Szene in die Hände gefallen war.
Denn die Aktivistin aus Oberbayern wäre aus Sicht der Fanatiker nur eine »Geisel zweiter Klasse«: Sie ist Bürgerin eines Landes, dessen Regierung den Irak-Krieg abgelehnt hatte. Sie bekleidet kein öffentliches Amt und arbeitet auch nicht für die Medien. Als »interessante Geiseln« für Islamisten gelten dagegen Amerikaner und Briten, Verwandte irakischer Politiker sowie Vertragsarbeiter der US-Armee, Diplomaten und Journalisten.
Beobachter haben immer wieder berichtet, dass es inzwischen einen regelrechten »Entführungsmarkt« gebe, auf dem Kriminelle den Islamisten Geiseln zum »Kauf« anbieten. Angeblich variiert der Preis, je nachdem welche Nationalität das Entführungsopfer hat und welche Position es bekleidet.
Auf jeden Fall war Osthoff ein leichtes Ziel. Denn obwohl sie sich auf Arabisch verständigen kann und dunkles Haar hat, fiel die Deutsche im Irak mit ihrer extrovertierten Art und ihrer Kleidung, die so gar nicht dem Stil irakischer Frauen entspricht, auf. Sie hatte keine Leibwächter und schreckte auch vor Reisen in gefährliche Regionen nicht zurück.
Zudem hat Osthoff viele Kontakte im Irak, was nicht unbedingt ein Schutz sein muss, sondern auch ein Fluch sein kann. Denn jeder Ausländer, der sich zur Zeit im Irak bewegt, muss sich fragen: Wem kann ich trauen und wer würde mich, vielleicht auch gegen Geld, an Extremisten oder Verbrecher verraten? »Ich kenne hier jeden«, sagte Osthoff in Bagdad gerne. Und man merkte, dass sie stolz darauf war, wenn ihr Iraker für ihr furchtloses humanitäres Engagement Respekt zollten.
Was am stärksten gegen eine Entführung durch eine radikale Gruppe spricht, ist das Geiselvideo, das kurz nach Osthoffs Verschwinden aufgetaucht war. Die Videoaufnahme, für die sich Osthoff und ihr Fahrer mit verbundenen Augen neben den bewaffneten Entführern auf den Boden knien mussten, unterscheidet sich von anderen Geiselvideos, die etwa von der Islamischen Armee, der Anhänger des alten Regimes angehören, oder von den El-Kaida-Terroristen veröffentlicht werden.
Zum einen fehlt ein Logo. Auch die übliche Fahne mit Aufschriften wie »Gott ist groß« oder »Es gibt keinen Gott außer Allah« hängt nicht an der Wand. Außerdem soll sich die Gruppe »Saraja al-Salasil« (Sturmtruppe der Erdbeben) genannt haben, ein Name ohne politischen oder religiösen Bezug, der wie ein hastig ausgedachter Fantasiename klingt.
Auch erwiesen sich später aufgetauchte Hinweise auf eine angebliche Verwicklung radikaler Kämpfer der irakischen Gruppe Armee der Mudschahedin als nicht stichhaltig, weil die Gruppe selbst glaubhaft jede Verbindung zu den Entführern dementierte.
Der sunnitische Rat der Religionsgelehrten, der früher schon bei der Befreiung von Geiseln aus der Gewalt militanter Gruppen vermittelt hatte, wollte sich gestern lieber nicht zu Osthoffs Freilassung äußern.

Artikel vom 20.12.2005