31.12.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Fortsetzung von Seite 12
Der in der Parteispenden-Affäre arg gebeutelten Partei drohten zum Start ins vermeintliche Vor-Wahljahr neue Rückschläge. Auch waren die Vorbehalte gegen die »Leichtmatrosen« Merkel und Guido Westerwelle (so Edmund Stoiber und andere) nicht gering.
Erst die Bekanntgabe der Kanzlerkandidatur am 30. Mai ließ Merkel in einem neuen Licht erscheinen. Dass sie urplötzlich anders wahrgenommen wurde, lag auch - viele wollen es bis heute nicht glauben - am neuen Friseur und dem Apricot-farbenen Sakko.
Hatte Merkel bei Simonis nachgeschlagen? »Das Aussehen einer Politikerin, ihre Garderobe, ihr Auftreten sind immer Teil der öffentlichen Debatte«. Simonis empfahl Stilberatung, Make up gegen hektische Flecken und Gesangsunterricht, damit die weibliche Stimme nicht so schräg von meist falsch ausgesteuerten Mikrofonanlagen verzehrt werde.
Diese drei Fragen blieben unbeantwortet, aber Merkel war fortan das Medienthema 2005 schlechthin. Templin in der Uckermark, die pressescheue Familie und vor allem das Fehlen ihres Ehemanns bei der Wahl zur ersten Kanzlerin Deutschlands: Nichts fanden die Deutschen offenbar spannender, allein die Papstwahl ausgenommen.
Dabei bot das Ausnahmejahr mehr als zwei Päpste und unendlich viele politische Personalien. Nach 36 Jahren gab es wieder eine große Koalition: Am 18. November unterzeichneten CDU, CSU und SPD die Vereinbarung: »Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit«. Genau zwei Monate vorher war die Union mit 35,2 Prozent unerwartet knapp stärkste Partei geworden. An der SPD, mit 34,2 Prozent stärker als vorausgesagt, führte letztlich kein Weg vorbei.
In wochenlangen Koalitionsverhandlungen mussten SPD und CDU von wesentlichen Wahlkampfforderungen abrücken. Auf »zwei Prozent Merkel-Steuer« (SPD-Wahlkampf-Spott) schlugen die nur mühsam zusammenfindenden Partner schließlich »ein Prozent Münte-Steuer« (Westerwelle). Statt radikaler Steuersenkung gab es Erhöhungen ohne Ende: Selbst CDU-Granden räumen inzwischen in kleiner Runde ein, dass die Opposition richtig liege mit ihrer Sicht: 155 Millionen Euro Steuererhöhungen und nur 15 Millionen echte Einsparungen bis 2009.
Und als wenn das Jahr noch nicht genug parteipolitische Überraschungen bereitgehalten hätte, putschten Ende Oktober Linke und Netzwerker gegen den SPD-Parteichef. In einer Kampfabstimmung um den Posten des Generalsekretärs setzte sich die 35 Jahre alte Andrea Nahles gegen Münteferings Wunschkandidaten durch. Der Sauerländer kündigte unerwartet konsequent den Rückzug als Parteichef an, aber die Abrechnung auf dem folgenden SPD-Parteitag blieb aus. Kreuzbrav wählte die SPD sich einen ebensolchen Parteichef. Der Brandenburger Ministerpräsident Matthias Platzeck erhielt 99,4 Prozent der Delegiertenstimmen.
Folgerichtig wurde wenige Tage später am 22. November Angela Merkel als erste Frau zur Bundeskanzlerin gewählt. Die 51-jährige Protestantin ist die erste Ostdeutsche und die erste Physikerin im Kanzleramt - und nie war ein Kanzler jünger.
Am Ende schien den meisten Deutschen 2005 ein gutes Jahr gewesen zu sein, obwohl wiederum 400 000 sozialversicherungspflichte Arbeitsplätze verloren gingen. 70 Prozent waren Mitte Dezember mit sich und der politischen Lage im Reinen. Lediglich 28 Prozent hielten das Jahr 2005 für ein schlechtes.
Dennoch blickt man mit aller Vorsicht auf das Kommende: Dass das nächste Jahr besser wird als 2005, glauben nur 28 Prozent. Niemand weiß, ob die Achterbahnfahrt wirklich schon zu Ende ist.

Ein Beitrag von
Reinhard Brockmann

Artikel vom 31.12.2005