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Europa feiert
Diplomatie
der Kanzlerin

Merkel beim EU-Gipfel Schrittmacherin

Von Frank Rafalski
Brüssel (dpa). Europa hat einen großen Schritt aus der Krise getan. Und Angela Merkel war die Schrittmacherin.

Mit großem diplomatischem Geschick brach die Kanzlerin bei ihrem ersten EU-Gipfel als Regierungschefin die starren Fronten im Streit um die künftigen EU-Finanzen auf. Erstmals seit langem gibt es eine Perspektive für die EU. Frankreichs Präsident Jacques Chirac kündigte bereits »ehrgeizige Vorschläge« zur Lösung der Verfassungskrise der EU an.
»Sie hat sich sehr schnell ins Zentrum der europäischen Politik gestellt«, zeigte sich auch der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen von Merkels Rolle beeindruckt. Erleichtert, mit etwas zerknittertem Hosenanzug, aber mit breitem Lächeln präsentierte sich Angela Merkel nach 25 Stunden Verhandlungen um 3.00 Uhr morgens am Samstag im Brüsseler EU-Ratsgebäude: »Ein gutes Signal für die EU und für Deutschland.« Die Auslandspresse feierte sie als neuen Star am EU-Himmel.
Merkels Taktik war schließlich aufgegangen. Von Chirac und - vor allem - vom britischen Premier Tony Blair als Mittlerin gebeten, spielte sie diese Rolle mit Bravour, als sei sie schon lange »Mitglied im Club«. Als am Ende den Polen noch 100 Millionen Euro fehlten, um Ja sagen zu können, legte Merkel auch die noch auf den Tisch. Polens Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz: »Das ist die schönste, wunderbarste Geste der Solidarität.«
Merkel verzichtete zwar auf bereits zugesagtes Geld. Der Freundschaftsdienst für Polen dürfte aber auf Dauer mehr wert sein. Die Kanzlerin reiste dennoch nicht mit leeren Händen nach Hause: Sie erhielt 300 Millionen zusätzlich an Strukturhilfen bis 2013. Und der deutsche Gesamtbeitrag zu den EU-Kassen liegt mindestens eine Milliarde unter dem Juni-Kompromiss, den Schröder schon akzeptiert hatte. Merkel: »Das Ergebnis können wir unserem Finanzminister guten Gewissens präsentieren.«
Dass Merkel so schnell zum Star im der EU aufsteigen konnte, zeigt auch, wie groß das Führungsvakuum in der EU der 25 ist. Merkel war umgeben von »lahmen Enten«. Ob in Frankreich, Großbritannien, Polen oder Italien - in den großen EU-Ländern herrschen politische Übergangszeiten. Die neuen Kräfte sind erkennbar, haben sich aber noch nicht durchgesetzt.
In dieser Lage konnte Merkel schon mal neue Bündniskonstellationen testen. Nach Abschluss des Gipfels sprach sie zwar wieder vom deutsch-französische »Motor«. Sie lobte aber ausdrücklich auch Großbritannien und die Rolle der kleinen EU-Länder. Deutschland als »Brückenbauer«, bei Wahrung der eigenen Interessen - exakt so hat Merkel ihre Vorstellung der Rolle Deutschlands in der EU definiert.
Auf sie wartet nun viel Arbeit in der EU. Beim britischen Sonderrabatt auf die EU-Zahlungen und bei den Agrarhilfen für die französischen Bauern ist mit einer »Revisionsklausel« zunächst nur der Einstieg in den Ausstieg geschafft. Eine Lösung der Verfassungskrise ist, auch wenn sie erneut angegangen wird, noch nicht in Sicht.

Artikel vom 19.12.2005