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Europäische Union

Es sind nur noch wenige
Europäer am Werk

»Jean-Claude Juncker ist einer, der Tag und Nacht für Europa arbeitet.« Dieses Lob aus dem Mund des Aachener Oberbürgermeisters Jürgen Linden über den luxemburgischen Premierminister und künftigen Aachener Karlspreisträger trifft den Nagel zwar hundertprozentig auf den Kopf. Doch der große Europäer Juncker muss sich um die Jahreswende sehr einsam vorkommen.


Das zurückliegende Jahr war ein Seuchenjahr für die Europäische Union. Zunächst das vorläufige Scheitern der EU-Verfassung und dann platzt im Sommer ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs, weil man sich nicht über die Finanzen einigen kann. Und auch der Kompromiss vor 14 Tagen war doch nur eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die »tiefe Krise« der EU ist damit noch längst nicht überwunden.
Wenn das Gipfeltreffen etwas Positives gezeigt hat, so war es das Verhandlungsgeschick von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihr ging es im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder um die Sache, nicht um große Gesten. Das hat ihr Respekt und Anerkennung eingebracht. Angela Merkel kann mit ihrem ersten Auftritt auf europäischer Bühne mehr als zufrieden sein.
Dies ändert aber nichts daran, dass an der Wende zum Jahr 2006 wenig zu spüren ist von dem Enthusiasmus, mit dem Staatsmänner wie der Franzose Robert Schuman oder auch Konrad Adenauer und Helmut Kohl ihre Idee von einem friedlichen Europa verfolgt haben, das ohne Geschlossenheit und Solidarität, ohne Bemühen um Integration nicht zu haben ist.
Die Realität um die Jahreswende: Es dreht sich alles nur noch um Euros und Cents. Heute sind nur noch wenige Europäer am Werk, vielmehr macht sich nationaler Egoismus breit, versuchen »Kaufleute« so viel wie möglich für sich aus dem Projekt Europa herauszuholen.
Es hat nicht erst des jüngsten Gipfels bedurft, um zu erkennen, dass Großbritannien nicht nur die Insellage von Europa trennt. Der Britenrabatt, eine Art eurokratischer Geldwäsche, wie eine Zeitung zynisch meinte, ist längst nicht mehr angebracht. Er wurde von der »Eisernen Lady« Maggie Thatcher 1984 erpresst, als es - zugegeben - dem Empire wirtschaftlich schlecht ging.
Mittlerweile steht Großbritannien besser da als Deutschland und Frankreich. Also müsste der »Briten-Rabatt« eher diesen beiden Ländern zustehen. Der britische Premier Tony Blair, nach eigener Aussage ein »leidenschaftlicher Europäer«, ist unglaubwürdig, wenn er an diesem Privileg festhält. Auch wenn die Agrarsubventionen ebenso fragwürdig sind wie auch andere Posten des EU-Haushalts. Blairs starrsinniges Verhalten ist damit keinesfalls zu entschuldigen.
Wie soll es weitergehen mit Europa? Die Erweiterungseuphorie ist mittlerweile verflogen. Aber erst die Ablehnung der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, mit der die Bürger der beiden Länder stellvertretend für andere ihre Angst vor einer noch größeren EU zum Ausdruck gebracht haben, hat die Politiker zum Nachdenken gebracht.
Jetzt treten auch sie auf die Bremse. In diesen Tagen äußerte das Europaparlament eine »Reihe von ernsthaften Zweifeln an der Beitrittsreife« der beiden Kandidaten Bulgarien und Rumänien. Zur Türkei wird konkret festgestellt, dass sich das Tempo der notwendigen Reformen 2005 verlangsamt habe. Und Frankreich hat für das Frühjahr eine grundsätzliche Debatte über das Ob und Wie weiterer Aufnahmen in die EU durchgesetzt.
Das kann ein Weg sein, um die von den Politikern beklagte, größtenteils jedoch von ihnen verursachte Kluft zwischen Europa und ihren Bürgern zu schließen. Solange das Europa der 25 nicht gefestigt ist, sollte es nicht erweitert werden. Das macht den Bürgern Angst. Mit dem vorläufigen Scheitern der EU-Verfassung haben die Politiker die Quittung bekommen.
Auch »die da« in Brüssel müssen schnellstens wieder eingefangen werden. Die Bürokratie dieses Apperats hat unerträgliche Formen angenommen. Dabei hat doch schon der Maastricher Vertrag festgeschrieben, dass Europa nur in die Hand nehmen soll, was es besser als seine Mitglieder erledigen kann.
Im bevorstehenden Jahr 2006 müssen sich die 25 Staaten der Europäischen Union unbedingt der Diskussion stellen, wie es weitergehen soll. Es ist schon viel gewonnen, wenn sich die Staats- und Regierungschefs an das erinnern, was sie noch im Sommer 2005 formuliert haben:
»Um Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung besser bekämpfen, nachhaltiges Wirtschaftswachstum fördern, auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren, die innere und äußere Sicherheit bewahren und die Umwelt schützen zu können, brauchen wir Europa, und zwar ein stärker geeintes und solidarisches Europa.«

Ein Beitrag von
Dirk Schröder

Artikel vom 31.12.2005