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Tsunami-Opfer »TP 911« hat
jetzt wieder einen Namen

Nach Jahrhundertflut identifiziert Polizist aus Delbrück viele Tote

Von Christian Althoff
Delbrück (WB). Landesinnenminister Ingo Wolf (FDP) wird heute 30 Polizisten aus NRW ehren, die nach der Tsunami-Katastrophe in Südostasien bei der Identifizierung vieler tausend Opfer geholfen hatten. Einer der Beamten ist Michael Lohl (43) aus Delbrück.
Michael Lohl in Phuket: »Von 570 vermissten Deutschen wurden bis auf 13 alle identifiziert.«

»TP 911« wäre wohl für immer ein unidentifiziertes Tsunamiopfer geblieben, wäre dem Polizisten aus Ostwestfalen nicht am letzten Tag seines Einsatzes in Thailand doch noch eine Unstimmigkeit aufgefallen. »TP 911« - das war die Kennzeichnung einer jungen, toten Frau. »TP« steht für die Tempelanlage Takua Pa, in der auch heute noch zahlreiche Opfer in Kühlcontainern aufbewahrt werden, die Zahl 911 ergab sich aus der Nummerierung der Opfer, die hierhin gebracht worden waren.
Zweimal war Michael Lohl in diesem Jahr auf Anforderung des Bundeskriminalamtes nach Phuket geflogen. Fünf Wochen dauerte der erste Einsatz, der im Juni begonnen hatte, vier Wochen der zweite, von dem der Beamte jetzt zurückgekehrt ist. Der Delbrücker war einer von 540 deutschen Polizisten, die wegen ihrer Erfahrungen mit Todesermittlungen für jeweils einige Wochen nach Südostasien geschickt worden waren. »22 Nationen hatten Polizisten, Zahnärzte und Rechtsmediziner nach Phuket entsandt, um Tote zu identifizieren«, erzählt der 43-Jährige. Dabei habe die Nationalität der Opfer keine Rolle gespielt: »Wir haben einen Fall nach dem anderen abgearbeitet.«
Die Polizisten und Mediziner belegten zwei Stockwerke im Postgebäude der Stadt und versuchten, die Toten vom Schreibtisch aus zu identifizieren. Lohl: »Wir hatten einerseits sogenannte Ante-Mortem-Akten. Darin befanden sich die von Angehörigen aufgegebene Vermisstenanzeige mit Fotos, eine Personenbeschreibung, DNA-Material etwa von einer Zahnbürste, und Röntgenaufnahmen vom Zahnarzt.« Diese Informationen mussten mit Post-Mortem-Akten verglichen werden, die Rechtsmediziner von jedem Opfer angelegt hatten. »Darin fanden sich bis zu 60 Fotos des Toten, Fingerabdruckblätter, eine Beschreibung der Kleidung, Aufnahmen des Gebisses und vieles mehr«, erklärt Michael Lohl. Besonders einfach sei es gewesen, Thailänder zu identifizieren: »Weil die in ihrem Personalausweis zwei Fingerabdrücke haben.« In anderen Fällen musste Lohl aus den Heimatländern der Vermissten Fingerabdrücke anfordern: »Das war nicht immer einfach, weil die Wohnungen der Opfer oft schon aufgelöst waren.« Fündig sei man dann häufig bei Behörden geworden, bei denen der Vermisste irgendwann einmal einen Antrag gestellt hatte: »Wenn sich der noch auftreiben ließ, konnten wir auf dem Papier auch die Fingerabdrücke sicherstellen.« Auch DNA-Untersuchungen gaben die Ermittler zu hunderten in Auftrag: »Die wurden in Hongkong und Bosnien erledigt, weil die Labors dort am günstigsten arbeiteten.«
Nahegegangen seien ihm vor allem die Fälle der getöteten Kinder, erinnert sich der Familienvater. »Da sehen Sie in der Ante-Mortem-Akte das Foto eines Mädchens im Bikini, das fröhlich am Strand spielt, und müssen dann in Post-Mortem-Akten von toten Kindern nach diesem Gesicht suchen.« Zufälle hätten an jenem 26. Dezember über Leben und Tod entschieden, sagt der Hauptkommissar und erzählt von dem finnischen Familienvater, den er in Phuket getroffen hatte. »Der war an dem Morgen mit Frau und seinen beiden Kindern am Pool. Er ging um 9.15 Uhr noch einmal auf die Hoteltoilette in den zweiten Stock, als die elf Meter hohe Welle seine Familie in den Tod riss.«
Etwa 500 Akten hat Michael Lohl bearbeitet und vielen unbekannten Toten ihre Namen zurückgeben - wie dem Opfer »TP 911«: »Wochenlang hat uns diese Frau beschäftigt. Aber die einzige Vermisstenakte, die halbwegs zu ihr passte, stimmte nicht in allen Details mit der Toten überein.« Die Frau sollte schon als nicht identifizierbares Opfer bestattet werden, als sich Michael Lahl an seinem letzten Arbeitstag noch einmal die Akte vornahm: »Dabei fiel mir auf, dass ein Eckzahn auf zwei Aufnahmen unterschiedlich aussah.« Weitere Ermittlungen ergaben, dass in dem Chaos nach dem Tsunami zwei Frauen mit »TP 911« gekennzeichnet worden waren und beide Opfer versehentlich in einer Akte geführt wurden. »Nachdem wir nun wussten, dass es zwei Frauen waren, konnten wir eine als 25-jährige Thailänderin identifizieren.« Fröhlich singend seien die Angehörigen zur Tempelanlage gekommen, um die tote Frau abzuholen: »Die waren erleichtert, dass sie ihre Angehörige endlich würdig bestatten konnten und nun ein Grab zum Trauern haben.«

Artikel vom 19.12.2005