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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Auf Weihnachtsbildern alter Meister prangt Maria, die Mutter Jesu, meistens in großer, manchmal überirdischer Schönheit. Dabei weiß niemand, wie sie wirklich aussah. Wie von allen anderen Personen der Bibel gibt es auch von ihr kein einziges zeitgenössisches Portrait. Wer diese Menschen hat zu Gesicht bekommen, nahm seine Erinnerung daran vollständig mit ins Grab. Nicht einmal mit Worten wurde ein Eindruck von ihren Zügen, ihrem Mienenspiel, ihrer Gebärdensprache oder dem Klang ihrer Stimme festgehalten und weitergegeben.
Und doch ist Maria bekannt. Die Evangelien des Neuen Testaments erzählen von ihr. Aber selbst deren Schilderungen sind spärlicher, als man vielleicht annehmen möchte. Am ergiebigsten noch sind die beiden Anfangskapitel bei Matthäus und vor allem bei Lukas, jene Passagen also, die das Weihnachtsfest begründen.
Maria war von Anfang ein Platz im späteren Glaubensbekenntnis der Christen sicher. Aber wenn es jemanden gab, der davon nichts wußte, ja nicht einmal ahnte, dann war sie es. Gott mag sie von Ewigkeit her dazu ausersehen haben, Jesus Christus zur Welt zu bringen; allein, ihr selbst war das völlig verborgen geblieben - bis die Botschaft des Engels sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Denn es gab doch nichts, wodurch sie, ein einfaches Mädchen aus der Provinz, von sich aus dazu qualifiziert gewesen wäre, die Mutter des Erlösers zu werden.
Ihre Erwählung hat aber darüber hinaus Modellcharakter für alle Menschen. Denn immer und ohne Ausnahme geht Gottes Gnade allein von ihm aus. Er knüpft damit eben nicht an bestimmte Vorzüge oder positive Verhaltensweisen eines Menschen an, um sie zu überhöhen oder zu belohnen. Ebensowenig lässt er sich von dem, was gegen einen spricht, davon abbringen, diesem seine Gnade zu schenken und in seiner Liebe gerade auch für ihn dazusein.
Die Maria der Bibel ist noch nicht die »Himmelskönigin«, die spätere Jahrhunderte in ihr sahen. Das schmälert ihre Bedeutung nicht, aber es bringt sie einem menschlich näher. Bald nach der Geburt ihres Kindes bereits wird ihr eine dunkle Verheißung zuteil, deren Tragweite sie angesichts ihrer Mutterfreuden wohl kaum hat ermessen können. Diese, auf das Leiden und Sterben Jesu anspielend, lautet: »Auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen« (Luk. 2, 35).
Unter Schmerzen muss sie lernen, dass ihr Sohn - sie hat ihn schließlich zur Welt gebracht und aufgezogen - zwar zu ihr gehört, aber daß er ihr nicht gehört. Er ist ihr Kind, aber er ist noch viel mehr als ihr Kind. Er ist bestimmt für seinen eigenen Weg, und das ist nicht der Weg seiner Eltern. Bereits als Zwölfjähriger fängt er an, sich von ihnen zu lösen und danach zu fragen, was Gott mit ihm vor hat: »Wisst ihr nicht, daß ich sein muss in dem, was meines« - nämlich meines himmlischen - »Vaters« ist (Luk. 2, 49)? Auch später kommt es zu Konflikten, in denen Jesus seiner Mutter nicht eben schonend beibringt, dass Familienbande und familiäre Rücksichtnahmen hinter seinem Auftrag zurückzustehen haben.
Als einziger nimmt der Evangelist Johannes die Mutter Jesu unter dessen Kreuz wahr und lässt sie dessen Todesstunde miterleben und -erleiden. Erst da wird ihr völlig bewusst geworden sein, worauf die einstige Prophezeiung vom Schwert durch ihre Seele hinauslaufen sollte. Aber vielleicht konnte Maria in der bittersten Stunde ihres Lebens zumindest ahnen, daß darin mehr und Größeres geschah, als was vor Augen war.
Denn seit der Geburt Jesu Christi lag über ihrem Dasein ein besonderer Glanz. Die Hirten hatten ihr erzählt von den geheimnisvollen Geschehnissen der Heiligen Nacht: von dem Lobgesang der himmlischen Heerscharen, von ihrem Deutewort, dieses unscheinbare Kind sei in Wirklichkeit der Heiland der Welt. Es werde den Frieden Gottes bringen und eine Freude, die letztlich alle Dunkelheiten besiegt. »Maria« - so heißt es da - »behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen« (Luk. 2, 19). Dass sie gleich alles verstanden hat, ist eher unwahrscheinlich. Aber sie bewegt es in ihrem Herzen und wird selbst davon bewegt. Und darauf kommt es an: sich von Gottes guten Gedanken bewegen, leiten und regieren zu lassen.

Artikel vom 17.12.2005