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Außerdem gehe ich furchtbar gern spazieren, und wir haben jetzt die schönsten Tage... Deshalb sage ich es noch mal: Ich will gern die Krankenpflegerin spielen, aber mit der Option auf Touristenattraktionen, sonst könnt ihr sehen, wo ihr...«
»Was?«
»Nichts!«
»Jetzt reg dich nicht so auf...«
»Anders geht es ja nicht! Du bist ein solcher Egoist, wenn ich da den Mund halte, rührst du nie einen Finger, um mir zu helfen!«

Er ging und schlug die Tür hinter sich zu, und sie verzog sich in ihr Zimmer.
Als sie wieder herauskam, waren beide in der Diele. Paulette war im siebten Himmel: Ihr Kleiner kümmerte sich um sie.
»Na, du Schwergewicht, hinein mit dir. Das hier ist wie ein Fahrrad, man muß die richtige Einstellung finden, für lange Strekken...«
Er kniete davor und betätigte alle Hebel:
»Sind deine Füße richtig?«
»Ja.«
»Und die Arme?«
»Etwas zu hoch...«
»Okay, Camille, komm her. Da du das Ding schieben wirst, müssen wir die Griffe auf dich einstellen...«

»Perfekt. Also, ich muß los... Kommt ihr noch ein Stück mit, dann können wir ihn gleich ausprobieren...«
»Geht er in den Fahrstuhl?«
»Nein. Man muß ihn zusammenklappen«, sagte er gereizt... »Aber um so besser, sie ist ja schließlich nicht vollinvalide, soweit ich weiß.«

»Brumm, brrrrummm... Fangio, schnall dich an, ich bin spät dran.«
Im Eiltempo durchquerten sie den Park. An der Ampel waren Paulettes Haare völlig zerzaust und die Wangen rosig.
»Okay, Mädels, ich laß euch allein. Schickt mir eine Karte, wenn ihr in Katmandu angekommen seid...«

Er war schon ein paar Meter gegangen, als er sich noch einmal umdrehte:
»He! Camille?... Denkst du noch an heute abend?«
»Was denn?«
»Die Crêpes...«
»Oh, Scheiße!«
Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund.
»Das hab ich vergessen... Ich bin nicht da.«
Er schrumpfte um ein paar Zentimeter.
»Und es ist auch noch was Wichtiges... Das kann ich nicht absagen... Geschäftlich...«
»Und sie?«
»Ich habe Philou gefragt, ob er mich ablöst...«
»Na gut... Pech gehabt, hm? Dann essen wir sie eben ohne dich...«

Tapfer trug er seine Verzweiflung und entfernte sich gequälten Schrittes. Das Etikett seines neuen Slips kratzte.
14. Kapitel
Mathilde Daens-Kessler war die hübscheste Frau, der Camille je begegnet war. Sehr groß, viel größer als ihr Mann, sehr schmal, sehr fröhlich, sehr kultiviert. Sie wandelte auf unserem kleinen Planeten, ohne darüber nachzudenken, interessierte sich für alles, wunderte sich über die kleinsten Dinge, amüsierte sich, empörte sich halbherzig, legte bisweilen ihre Hand auf die ihres Gegenübers, sprach stets mit leiser Stimme, beherrschte vier oder fünf Sprachen und täuschte alle mit einem entwaffnenden Lächeln.
So hübsch, daß ihr nie die Idee gekommen war, sie zu malen.
Es war zu riskant. Sie war zu lebendig.

Eine kleine Skizze, einmal. Im Profil. Die Partie unter dem Haarknoten, ihre Ohrringe. Pierre hatte sie ihr weggenommen, aber es war nicht sie gewesen. Es fehlten die tiefe Stimme, ihr Glanz und ihre Grübchen, wenn sie lächelte.

Sie besaß das Wohlwollen, den Hochmut und die Ungezwungenheit derer, die zwischen edlen Laken zur Welt gekommen waren. Ihr Vater war ein großer Sammler, sie war immer von schönen Dingen umgeben gewesen, und es hatte ihr im Leben nie an etwas gefehlt, weder an Dingen, noch an Freunden oder Feinden.
Sie war reich, Pierre unternehmungslustig.
Sie schwieg, wenn er sprach, und machte seine Fehler wett, sobald er sich abwandte. Er tat junge Schützlinge auf. Er irrte sich nie, hatte beispielsweise Boulys und Barcarès bekanntgemacht, und sie bemühte sich darum, die Betreffenden zu halten.
Sie konnte alle halten.

Ihre erste Begegnung, wie sich Camille bestens erinnerte, hatte in der Hochschule der Schönen Künste stattgefunden, anläßlich einer Ausstellung der Abschlußarbeiten. Eine Art Aura ging ihnen voraus. Der furiose Händler und die Tochter von Witold Daens. Man hoffte auf ihr Kommen, fürchtete sie, harrte ihrer Reaktionen, und seien sie noch so unscheinbar. Sie hatte sich hundsmiserabel gefühlt, als sie von ihnen begrüßt wurden, sie und die ganze Truppe armer Schlucker. Sie hatte den Kopf gesenkt, als sie ihm die Hand reichte, war unbeholfen ein paar Komplimenten ausgewichen und hatte nach einem Mauseloch Ausschau gehalten, in das sie sich endlich verkriechen konnte.
Es war im Juni gewesen, vor fast zehn Jahren. Die Schwalben hatten im Universitätshof ein Konzert gegeben, und sie tranken schlechten Punsch, während sie ehrfürchtig Kesslers Worten lauschten. Camille hörte nichts. Sie betrachtete seine Frau. An jenem Tag trug sie eine blaue Bluse und einen breiten silbernen Gürtel, an dem winzige Schellen klimperten, wenn sie sich bewegte.
Es war Liebe auf den ersten Blick.

Anschließend waren sie von ihnen in ein Restaurant der Rue Dauphine eingeladen worden, und am Ende eines feuchtfröhlichen Diners hatte ihr kleiner Freund Camille aufgefordert, ihre Zeichenmappe zu öffnen. Sie hatte sich geweigert.
Ein paar Monate später war sie zu ihnen gekommen. Allein.

Pierre und Mathilde besaßen Bilder von Tiepolo, Degas und Kandinsky, hatten jedoch keine Kinder. Camille wagte nicht, sie darauf anzusprechen, und ging ihnen mit Haut und Haar ins Netz. In der Folge erwies sie sich als so enttäuschend, daß die Maschen weiter wurden.
»Das ist purer Blödsinn! Du machst nichts als Blödsinn!« herrschte Pierre sie an.
»Warum liebst du dich nicht? Warum?« fügte Mathilde sanfter hinzu.

Sie ging nicht mehr zu ihren Vernissagen.


Wenn die beiden allein waren, zeigte er sich darüber sehr betrübt:
»Warum?«
»Wir haben sie nicht genug geliebt«, antwortete seine Frau.
»Wir?«
»Alle.«
Er legte den Kopf auf ihre Schulter und stöhnte:
»Ach... Mathilde. Ma Belle... Warum hast du sie ziehen lassen?«
»Sie wird zurückkommen...«
»Nein. Sie wird alles kaputtmachen...«
»Sie wird zurückkommen.«

Sie war zurückgekommen.

»Ist Pierre nicht da?«
»Nein, er ist mit seinen Engländern essen, ich habe ihm nicht gesagt, daß du kommst, ich wollte ein bißchen Zeit mit dir haben.«
Dann, mit Blick auf ihre Mappe:
»Aber... Du... du hast was mitgebracht?«
»Ach, das ist nichts Besonderes. Etwas Kleines, was ich ihm neulich versprochen habe.«
»Darf ich mal sehen?«
Camille antwortete nicht.
»Gut, dann wart ich auf ihn.«
»Ist das von dir?«
»Mm mm.«
»Mein Gott. Wenn er erfährt, daß du nicht mit leeren Händen gekommen bist, wird er untröstlich sein... Ich rufe ihn an...«
»Nein, nein!« antwortete Camille, »laß nur! Es ist nichts Besonders, wie gesagt... Das bleibt unter uns. Eine Art Mietzah-lung.«
»In Ordnung. Wollen wir essen?«

Bei ihnen war alles schön, der Blick, die Gegenstände, die Teppiche, die Gemälde, das Geschirr, ihr Toaster, alles. Sogar ihr Klo war schön. Auf einem Gipsabdruck konnte man den Vierzeiler lesen, den Mallarmé in sein eigenes Klo geschrieben hatte:

Du bist hier, um dich zu entleeren,
Und magst in diesem finstÕren Gelände
Singen, rauchen, brauchst dich um nichts zu scheren
Nur eins sollst du nicht: mit der Hand an die Wände.

Beim ersten Mal hatte sie das echt umgehauen:
»Sie... Sie haben Mallarmés Klowände gekauft?!«
»Nicht doch«, lachte Pierre, »ich kenne nur den Menschen, der den Abguß dafür gemacht hat. Kennst du sein Haus? In Vulaines?«
»Nein.«
»Da müssen wir mal zusammen hin. Du wirst diesen Ort lieben.Liiiieeeeben.«
Und alles andere war entsprechend. Sogar ihr Klopapier war weicher als anderswo.
Mathilde freute sich:
»Was siehst du gut aus! Was hast du für eine schöne Gesichtsfarbe! Wie gut dir die kurzen Haare stehen! Du hast etwas zugenommen, oder? Wie glücklich ich bin, dich so zu sehen. Wirklich glücklich. Du hast mir sehr gefehlt, Camille. Wenn du wüßtest, wie sehr mir diese Genies manchmal auf die Nerven gehen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.12.2005