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Camille? Alles in Ordnung? Hier ist dein... dein tapferer Ritter.«

Philibert stand im Türrahmen, einen Säbel in der Hand.
»Barbès! Sitz!«

»Ich... Ich wirke ein wenig lä... lächerlich, oder?«
Sie stellte ihn lachend vor:
»Vincent, das ist Philibert Marquet de la Durbellière, Oberbefehlshaber einer in Auflösung begriffenen Armee«, dann zu Philibert gewandt: »Philibert, Vincent... eh... wie van Gogh.«
»Erfreut«, antwortete er und steckte seinen Säbel wieder weg. »Lächerlich und erfreut. Na dann, dann will ich... mich zurückziehen, nicht wahr?«
»Ich komm mit dir nach unten«, antwortete Camille.
»Ich auch.«

»Kommst du... bei mir vorbei?«
»Morgen.«
»Wann?«
»Nachmittags. Eh? Mit meinem Hund?«
»Mit Barbès, ja klar.«
»Ah! Barbès...« sagte Philibert betrübt. »Noch so ein verrückter Republikaner. Ich hätte wohl die Äbtissin von Rochechouart vorgezogen!«
Vincent sah ihn fragend an.
Sie zuckte ratlos mit den Schultern.
Philibert, der sich umgedreht hatte, nahm daran Anstoß:
»Ganz genau! Und daß der Name dieser armen Marguerite de Rochechouart de Montpipeau mit einem solchen Nichtsnutz in Verbindung gebracht wird, ist eine Absurdität!«
»De Montpipeau?« wiederholte Camille. »Ihr habt vielleicht Namen. Warum meldest du dich eigentlich nicht bei Wer wird Millionär?«
»Ah! Jetzt fängst du auch noch damit an! Du weißt genau, warum.«
»Nein. Warum?«
»Bis ich das erste Wort herausgebracht habe, ist es schon Zeit für die Nachrichten...«

11. Kapitel
In dieser Nacht schlief sie nicht. Irrte umher, scharrte im Staub, schlug sich mit Geistern herum, nahm ein Bad, stand spät auf, duschte Paulette, frisierte sie völlig geistesabwesend, flanierte ein wenig mit ihr durch die Rue de Grenelle und war außerstande, etwas zu sich zu nehmen.
»Du bist heute sehr nervös.«
»Ich habe eine wichtige Verabredung.«
»Mit wem?«
»Mit mir.«
»Mußt du zum Arzt?« fragte die alte Frau beunruhigt.

Wie üblich nickte letztere nach dem Essen ein. Camille nahm ihr das Wollknäuel aus der Hand, zog die Decke höher und entfernte sich auf Zehenspitzen.
Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, stellte den Hocker hundertmal um und inspizierte sorgfältig ihr Material. Ihr war übel.

Franck war gerade nach Hause gekommen. Er war dabei, die Waschmaschine zu leeren. Seit seiner Geschichte mit dem Jivaro-Pullover hängte er seine Wäsche eigenhändig auf und schwang wilde hausfrauliche Reden über Trockner, welche Fasern angriffen und Kragen ruinierten.
Ergreifend.

Er war es, der die Tür aufmachte:
»Ich will zu Camille.«
»Ganz am Ende, durch den Flur durch...«
Dann verzog er sich in sein Zimmer, und sie war ihm dankbar für die Zurückhaltung, die er ausnahmsweise einmal an den Tag legte.
Sie fühlten sich beide äußerst unwohl, aber aus unterschiedlichen Gründen.
Falsch.
Sie fühlten sich beide äußerst unwohl, und zwar aus demselben Grund: ihrem Bauch.

Er war es, der sie aus der Verlegenheit erlöste:
»Gut... Wollen wir? Hast du eine Kabine? Einen Paravent? Irgendwas in der Art?«
Sie hätte ihn umarmen können.

»Hast du gesehen? Ich habe die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht. Frieren wirst du nicht...«
»Oh! Toll, dein Kamin!«

»Verdammt, ich hab das Gefühl, ich bin bei einem dieser Götter in Weiß, da krieg ich echt Angst... Soll ich... soll ich auch den Slip ausziehen?«
»Wenn du ihn anbehalten willst, behalt ihn an.«
»Aber wenn ich ihn ausziehe, ist es besser.«
»Ja. Aber ich fang sowieso mit dem Rücken an.«
»Der ist bestimmt voller Pickel.«
»Mach dir keine Sorgen, mit nacktem Oberkörper in der Gischt sind sie verschwunden, bevor du deinen ersten Misthaufen weggekarrt hast.«
»Du würdest eine hervorragende Kosmetikerin abgeben, weißt du das?«
»Ja, ja... Komm jetzt da hinten raus und setz dich.«
»Du hättest mich wenigstens ans Fenster setzen können. Damit ich etwas Ablenkung hab.«
»Das entscheide nicht ich.«
» Wer dann?«
»Das Licht. Und beschwer dich nicht, später wirst du stehen...«
»Wie lang?«
»Bis du umfällst.«
»Du wirst vor mir umfallen.«
»Mmm«, machte sie.
Mmm wie: Das sollte mich wundern...

Zunächst machte sie eine Menge Skizzen von allen Seiten. Ihr Bauch und ihre Hände wurden immer geschmeidiger.
Er hingegen verspannte sich immer mehr.
Wenn sie zu nahe kam, schloß er die Augen.

Hatte er Pickel? Sie sah sie nicht. Sie sah seine angespannten Muskeln, seine müden Schultern, seine Halswirbel, die unter dem Nacken hervorstachen, wenn er den Kopf nach vorne neigte, seine Wirbelsäule wie ein langer erodierter Bergkamm, seine Nervosität, seine Fieberhaftigkeit, seine Kieferknochen und seine vorstehenden Backenknochen. Die Höhlen um seine Augen, seine Kopfform, sein Brustbein, seinen hohlen Brustkorb, seine schmächtigen, von dunklen Punkten übersäten Arme. Das erschütternde Aderlabyrinth unter seiner hellen Haut und den Verlauf des Lebens auf seinem Körper. Ja. Das vor allem: den Stempel des Abgrunds, die Spuren der Ketten eines unsichtbaren Panzers und auch seine extreme Scham.

Nach etwa einer Stunde fragte er sie, ob er lesen dürfe.
»Ja. Solange ich mich dir annähere.«
»Hast du... Hast du noch gar nicht angefangen?«
»Nein.«
»Tja! Soll ich laut lesen?«
»Wenn du willst.«
Er knetete das Buch einen Moment, bevor er es auseinanderbog:

Ich spüre, daß Vater und Mutter instinktiv auf mich reagieren (das heißt nicht unbedingt verständig).
Ich werde zu Hause nur zögerlich empfangen, so wie man einen großen struppigen Hund zögerlich empfangen würde. Er wird mit seinen dreckigen Pfoten reintapsen - und außerdem ist er sehr struppig.
Er wird alle stören. Und er bellt sehr laut.
Kurzum - ein schmutziges Tier.
Gut - aber das Tier hat eine menschliche Geschichte und, auch wenn es nur ein Hund ist, eine menschliche Seele. Noch dazu eine menschliche Seele, die so sensibel ist, daß sie spürt, was man von ihm denkt, während ein gewöhnlicher Hund dazu nicht imstande ist.
Ach! Dieser Hund ist der Sohn unseres Vaters, aber wir haben ihn so oft frei laufen lassen, daß er zwangsläufig bissig wurde. Pah! Diese Kleinigkeit hat Vater schon vor Jahren vergessen, es besteht also keinerlei Anlaß, darüber zu reden.
Er räusperte sich.
Nat... hm, Pardon... Natürlich bereute der Hund insgeheim, hergekommen zu sein: die Einsamkeit in der Heide war weniger groß als in diesem Haus, trotz aller Freundlichkeit. Das Tier war in einem Anflug von Schwäche zu Besuch gekommen. Ich hoffe, man möge mir diese Schwäche verzeihen; ich selbst werde es vermeiden...
»Halt«, unterbrach sie ihn. »Aufhören. Bitte aufhören.«
»Stört es dich?«
»Ja.«
»Entschuldigung.«

»Okay. Das warÕs. Jetzt kenne ich dich.«
Sie klappte ihren Block zu, und der Brechreiz überkam sie erneut. Sie hob das Kinn und warf den Kopf in den Nacken.
»Alles in Ordnung?«
»...«
»Gut. Jetzt drehst du dich zu mir um, machst die Beine auseinander und legst die Hände so hin.«
»Muß ich sie wirklich auseinandermachen, sicher?«
»Ja. Und deine Hand, weißt du, die... Du läßt dein Handgelenk baumeln und spreizt die Finger. Moment. Nicht bewe-gen.«
Sie kramte in ihren Sachen und zeigte ihm den Abdruck eines Gemäldes von Ingres.
»Genau so.«
»Wer ist dieser Dicke?«
»Louis-François Bertin.«
»Wer ist das?«
»Der Buddha der Bourgeoisie, gesättigt, begütert und triumphal. Das ist nicht von mir, sondern von Manet. Herrlich, was?«
»Und du willst, daß ich die gleiche Haltung einnehme?«
»Ja.«
»Hm. Die... die Beine also gespreizt. Meinst du so?«
»He... hör auf mit deinem Schwanz. Ist schon gut. Der interessiert mich ganz und gar nicht. Hier, schau her. Da ist er.«
»Oh!«
Kurze Silbe der Rührung und Enttäuschung.

Camille setzte sich und legte das Brett auf ihren Schoß. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.12.2005