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Du gehst mir auf die Nerven, fuhr Camille sich selbst an. Du gehst mir total auf die Nerven.
Komm schon, sagen wirÕs ihm. Aber keinen großen, ja? Einen kleinen. Einen kleinen gelockten Malteser, der vor Kälte zittert. Oh ja, das wäre gut. Oder auch einen Welpen? Einen Welpen, der sich in seiner Jacke zusammenringelt. Dann wirst du auf der Stelle schwach. Außerdem sind bei Philibert noch genug Zimmer frei.

Niedergeschlagen setzte sich Camille auf eine Stufe und legte den Kopf auf die Knie.
Rekapitulieren wir.
Sie hatte ihre Mutter seit fast einem Monat nicht gesehen. Sie mußte sich unbedingt melden, sonst war bald wieder eine Überdosis fällig, inklusive Sanitätswagen und Magensonde. Sie war seit langem daran gewöhnt, trotzdem war es kein Vergnügen. Anschließend brauchte sie Zeit, um sich davon zu erholen. Tz tz... Einfach zu empfindlich, die Kleine.

Paulette bewegte sich trittsicher zwischen 1930 und 1990, verlor aber zwischen gestern und heute den Boden unter den Füßen, und es wurde nicht besser. Zuviel Glück vielleicht? Es war, als würde sie sich langsam zu Boden sinken lassen. Außerdem verschwamm ihr alles vor den Augen. Okay. Bis jetzt war es gegangen. Gerade hielt sie ihren Mittagsschlaf, und bald würde Philou zusammen mit ihr Wer wird Millionär? ansehen und alle Fragen beantworten können. Das liebten sie beide. Perfekt.

Was Philibert betraf, so war er jetzt Theaterdirektor Louis Jouvet und Bühnenschriftsteller Sacha Guitry in einer Person. Er hatte angefangen zu schreiben, zog sich dazu in sein Zimmer zurück und ging zweimal die Woche zur Probe. Keine Nachrichten von der Liebesfront? Gut. Keine Nachrichten, gute Nachrichten.

Franck. Nichts Besonderes. Nichts Neues. Alles lief gut. Seine Oma war im Warmen, sein Motorrad auch. Er kam nur nachmittags, um zu schlafen, und arbeitete weiterhin sonntags. »Ein bißchen noch, verstehst du? Ich kann sie jetzt nicht einfach im Stich lassen. Ich muß einen Ersatz für mich suchen.«
Wie ist das gemeint? Einen Ersatz oder eine noch größere Maschine? Sehr gewieft, der Junge. Sehr gewieft. Und warum sollte er sich auch einschränken? Wo war das Problem? Er hatte um nichts gebeten. Und nach den ersten Tagen der Euphorie war er wieder in seine Kochtöpfe abgetaucht. Nachts schien er sich an seine Freundin zu kuscheln, während sie aufstand, um den Fernseher der Alten auszuschalten. Aber kein Problem. Kein Problem. Dokumentarfilme über die Schwimmblase der Knurrhähne und der letzte Tropfen Kräutertee waren ihr immer noch lieber als der Job bei Proclean. Natürlich hätte sie auch gar nicht arbeiten können, aber sie war nicht stark genug, um das auf sich zu nehmen. Die Gesellschaft hatte sie gut erzogen. Lag es an dem fehlenden Selbstvertrauen oder im Gegenteil an der Angst, in eine Situation zu geraten, in der sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, auf ihrem Selbstbewußtsein herumzutrampeln. Sie hatte noch ein paar Kontakte. Aber sollte sie sich noch einmal so verbiegen? Ihre Hefte zuschlagen und eine Lupe in die Hand nehmen? Dazu hatte sie nicht mehr den Mut. Sie war nicht besser geworden, nur älter. Uff.

Nein, das Problem lag drei Etagen höher. Warum hatte er sich überhaupt geweigert, ihr aufzumachen? War er in Trance oder auf Entzug? Stimmte seine Geschichte mit der Entziehungskur? Das konnte er seiner Großmutter erzählen. Gesäusel, um die vornehmen Töchter und ihre Concierge um den Finger zu wickeln, ja! Warum ging er nur nachts nach draußen? Um sich ficken zu lassen, bevor er sich einen Schuß in den abgebundenen Unterarm setzte? Sie waren alle gleich. Lügner, die einem Sand in die Augen streuten und auf Knien jubilierten, während man selbst vor Reue fast umkam, Dreckskerle.

Als sie Pierre vor zwei Wochen an der Strippe hatte, beging sie wieder dieselben Dummheiten: Sie fing erneut an zu lügen.
»Camille. Kessler am Apparat. Was ist da los? Wer ist dieser Typ, der in meinem Zimmer haust? Ruf mich sofort zurück.«
Danke, du dicke Perreira. Danke.
Heilige Fatima, bitte für uns.
Sie war ihm zuvorgekommen:
»Das ist ein Modell«, erklärte sie, noch bevor sie ihn begrüßt hatte, »wir arbeiten zusammen.«
Sprachlosigkeit am anderen Ende.
»Ein Modell?«
»Ja.«
»Lebst du mit ihm zusammen?«
»Nein. Ich sagte doch bereits: Ich arbeite.«
»Camille... Ich... Ich möchte dir jetzt so gern vertrauen... Kann ich das?«
»...«
»Für wen ist es?«
»Für dich.«
»Wirklich?«
»...«
»Du... du...«
»Ich weiß es noch nicht. Eine Rötelzeichnung, denke ich...«
»Fein.«
»Tschüß dann.«
»He!«
»Ja?«
»Mit was für Papier arbeitest du?«
»Mit gutem.«
»Bist du dir sicher?«
»Daniel hat mich bedient.«
»Sehr gut. Und sonst, alles in Ordnung bei dir?«
»Im Augenblick rede ich mit dem Händler. Zwecks Geplänkel rufe ich dich auf der anderen Leitung an.«
Klick.

Seufzend schüttelte sie die Streichholzschachtel. Sie hatte keine Wahl.
Heute abend, nachdem sie eine kleine alte Frau ins Bett gebracht hätte, die sowieso nicht müde war, würde sie die Treppe hochgehen und mit ihm sprechen.
Als sie das letzte Mal versucht hatte, einen Junkie bei Einbruch der Dunkelheit zurückzuhalten, hatte sie einen Messerstich in die Schulter abgekriegt. Okay. Das hier war etwas anderes. Es war ihr Typ gewesen, sie hatte ihn geliebt und alles, aber trotzdem... Diese kleine Gunstbezeugung hatte ihr ganz schön weh getan.
Keine Streichhölzer mehr. Mist aber auch. Heilige Fatima und Hans Christian Andersen, hiergeblieben, verflucht. Bleibt noch ein bißchen.

Und wie in dem Märchen stand sie auf, zupfte ein wenig an ihren Hosenbeinen und machte sich auf den Weg zu ihrer Großmutter ins Paradies.


9. Kapitel
Was ist es?«
»Ach...« wand sich Philibert, »nichts Richtiges eigentlich.«
»Ein antikes Drama?«
»Neeiiin.«
»Ein Vaudeville?«
Er griff nach seinem Wörterbuch:
»Vaterunser... Vatikan... Vau...Vaudeville... Leichte Komödie, gründet auf Überraschungen in der Handlung, Verwechslungen und Bonmots... Ja. Genau das ist es«, sagte er und klappte es abrupt zu. »Eine leichte Komödie mit Bonmots.«
»Worum gehtÕs da?«
»Um mich.«
»Um dich?« Camille erstickte fast vor Lachen, »aber ich dachte, es wäre bei euch tabu, über sich zu sprechen?«
»Nun ja, ich nehme Abstand davon«, fügte er hinzu und warf sich in Pose.
»Und... eh... und das Kinnbärtchen hier. Ist das... Ist das für die Rolle?«
»Gefällt es dir nicht?«
»Doch, doch, das ist... das ist dandyhaft. Man könnte meinen, Mit Rose und Revolver, nicht wahr?«
»Mit was?«
»Stimmt ja, du entdeckst das Fernsehen mit Julien Lepers. Sag mal, eh... Ich muß mal nach oben. Zu meinem Untermieter. Kann ich dir Paulette anvertrauen?«
Er nickte und strich sich über die Barthaare:
»Gehe, laufe, fliege und steige zu deinem Schicksal auf, mein Kind. «
»Philou?«
»Ja?«
»Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, könntest du dann mal nach mir schauen?«

10. Kapitel
Das Zimmer war tadellos aufgeräumt. Das Bett war gemacht, und er hatte zwei Tassen und ein Paket Würfelzucker auf den Campingtisch gestellt. Er saß auf einem Stuhl, mit dem Rücken zur Wand und schlug sein Buch zu, als sie leise an die Tür klopfte.

Er stand auf. Sie waren gleichermaßen verlegen, der eine wie die andere. Es war schließlich das erste Mal, daß sie sich verabredet hatten. Betretenes Schweigen.
»Mö... möchtest du etwas trinken?«
»Gern.«
»Tee? Kaffee? Cola?«
»Kaffee ist prima.«

Camille setzte sich auf den Hocker und fragte sich, wie sie es geschafft hatte, so lange hier zu wohnen. Es war so feucht, so dunkel, dermaßen... gnadenlos. Die Decke war so niedrig, die Wände schmutzig. Nein, das war nicht möglich. Es mußte jemand anderes gewesen sein.

Er machte sich an den Elektroplatten zu schaffen und zeigte auf das Glas Nescafé.
Barbès schlief auf dem Bett und öffnete von Zeit zu Zeit ein Auge.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.12.2005