20.12.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Der Makel. Eher hätte ich sie umgebracht, als sie dabei zu unterstützen, daß sie sich den Bauch kaputtmachen läßt. War ich... War ich im Unrecht? Antworte mir. Wie viele Menschenleben habe ich auf dem Gewissen? Wieviel Leid? Wieviel...«
»Schhh.«
Camille strich ihr über die Oberschenkel.
»Schhh.«
»Sie... Sie hat ihn dann bekommen, den Kleinen, und sie hat ihn mir dagelassen. ÝHierÜ, hat sie gesagt, Ýweil du ihn haben wolltest, hier ist er! Bist du jetzt zufrieden?Ü«
Sie hatte die Augen geschlossen und wiederholte unter Schluchzern:
»ÝBist du jetzt zufrieden?Ü hat sie mich gefragt und ihre Koffer gepackt. ÝBist du zufrieden?Ü Wie kann man so etwas sagen? Wie kann man so etwas je vergessen? Wie soll ich jetzt nachts schlafen, wo ich mich nicht mehr aufreibe, wo ich nicht mehr arbeite, bis ich vor Erschöpfung umfalle, he? Sag es mir. Sag es mir. Sie hat ihn dagelassen, kam einige Monate später wieder, hat ihn mitgenommen und dann wieder zurückgebracht. Wir wurden alle verrückt. Vor allem Maurice, mein Mann. Ich glaube, sie hat ihn an die Grenzen seiner männlichen Geduld gebracht. Sie hat es irgendwann auf die Spitze getrieben, hat ihn noch einmal geholt, ist zurückgekommen und hat Geld verlangt, angeblich, um ihn ernähren zu können, hat sich dann ins Nachtleben gestürzt und ihn vergessen. Irgendwann ist das Faß übergelaufen, sie kam angetänzelt, als wenn nichts wäre, und er hat sie mit der Flinte empfangen. ÝIch will dich nicht mehr sehenÜ, hat er zu ihr gesagt, Ýdu bist eine Hure. Du machst uns Schande, und den Kleinen hast du nicht verdient. Den kriegst du auch nicht zu sehen. Heute nicht und nie mehr. Los, verschwinde. Laß uns in Frieden.Ü Camille, es war mein Töchterchen. Ein Mädchen, auf das ich über zehn Jahre lang Tag für Tag gewartet hatte. Ein Mädchen, das ich abgöttisch geliebt hatte. Geliebt. Was hatte ich ihr Mündchen mit Küssen bedeckt. Ich hatte sie so oft abgeknutscht, wie es nur ging. Ein Kind, das alles bekommen hat. Alles! Die schönsten Kleider. Ferien am Meer, in den Bergen, die besten Schulen. Alles Gute in uns war für sie. Und was ich dir hier erzähle, hat sich in einem winzigen Dorf zugetragen. Sie ist gegangen, aber alle anderen, die sie von klein auf kannten und die sich hinter ihren Läden versteckten, um den aufgebrachten Maurice zu sehen, die sind geblieben. Und ich bin ihnen weiterhin begegnet. Am nächsten Tag und am übernächsten Tag und auch noch am Tag darauf. Das war... Das war unmenschlich. Das war die Hölle auf Erden. Das Mitgefühl der braven Bürger, es gibt nichts Schlimmeres. Derjenigen, die dir sagen, ich bitte für euch, und dabei nur versuchen, dir die Würmer aus der Nase zu ziehen, und derjenigen, die deinem Mann das Trinken beibringen und ihm immer wieder erzählen, daß sie genauso gehandelt hätten, Herrgott! Ich hatte Mordgelüste, glaub mir. Die Atombombe hab ich mir gewünscht!«
Sie lachte.
»Und außerdem? Der Kleine war einfach da. Er hatte niemanden um etwas gebeten. Und wir haben ihn geliebt. Wir haben ihn so gut es geht geliebt. Vielleicht waren wir manchmal sogar zu streng. Wir wollten nicht noch einmal dieselben Fehler machen. Und du schämst dich nicht, mich jetzt zu malen?«
»Nein.«
»Recht hast du. Die Scham führt uns nirgendwohin, glaub mir. Die Scham nützt dir nichts. Sie ist nur da, um den braven Leuten eine Freude zu machen. Wenn sie dann ihre Läden zumachen oder von der Kneipe heimkommen, fühlen sie sich gut zu Hause. Sie werfen sich in die Brust, schlüpfen in ihre Hausschuhe und lächeln sich an. In ihrer Familie gäbÕs das nicht, dieses ganze Durcheinander, auf keinen Fall! Aber. Du malst mich doch wohl nicht mit dem Glas in der Hand, oder?«
»Nein«, lächelte Camille.
Stille.
»Und danach? Ist alles gut verlaufen?«
»Mit dem Kleinen? Ja. Er war ein guter Junge. Ungezogen, aber aufrichtig. Wenn er nicht bei mir in der Küche war, war er mit seinem Opa im Garten. Oder angeln. Er war jähzornig, aber er war kein schlechtes Pflänzchen. Er gedieh prächtig. Auch wenn das Leben nicht jeden Tag so lustig war, mit zwei Alten wie uns, die seit langem die Lust an der Unterhaltung verloren hatten, aber na ja. Wir haben unser möglichstes getan. Wir haben gespielt. Wir haben keine Kätzchen mehr umgebracht. Wir sind mit ihm in die Stadt gefahren. Ins Kino gegangen. Wir haben ihm seine Fußballaufkleber gekauft und neue Fahrräder. Er war gut in der Schule, weißt du? Na ja! Nicht der Klassenbeste, aber er kam gut mit. Und dann ist sie noch mal zurückgekommen, und wir dachten, es wäre gut, wenn er ginge. Daß eine komische Mutter immer noch besser wäre als gar keine. Daß er einen Vater hätte, einen kleinen Bruder, daß es kein Leben wäre, in einem halb ausgestorbenen Dorf aufzuwachsen, und daß es für seine Ausbildung besser wäre, in der Stadt zu wohnen. Wie sind wir ihr noch mal auf den Leim gegangen. Wie Anfänger. Wie richtige Dorftrottel. Den Rest kennst du: Sie hat ihm das Rückgrat gebrochen und ihn dann in den Direktzug um 16.12 Uhr gesetzt.«
»Und Sie haben nie wieder von ihr gehört?«
»Nein. Außer im Traum. Im Traum sehe ich sie oft. Sie lacht. Sie ist hübsch. Zeig mir, was du gemalt hast.«
»Nichts. Ihre Hand auf dem Tisch.«
»Warum läßt du mich so viel schwätzen? Warum interessiert dich das alles?«
»Ich mag es gern, wenn Menschen sich öffnen.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Das ist doch fast wie ein Selbstporträt, oder? Ein Selbstporträt in Worten.«
»Und du?«
»Ich kann nicht gut erzählen.«
»Aber es ist auch nicht normal, die ganze Zeit mit einer alten Frau wie mir zu verbringen.«
»Tatsächlich? Sie wissen also, was normal ist?«
»Du solltest ausgehen. Andere Menschen sehen. Junge Leute in deinem Alter! Los, nimm mal den Deckel dort hoch. Hast du die Pilze gewaschen?«

6. Kapitel
Schläft sie?« fragte Franck.
»Ich glaube, ja.«
»Übrigens, die Concierge hat mich grade angehauen, du sollst unbedingt zu ihr kommen.«
»Haben wir wieder was ausgefressen, mit dem Müll?«
»Nein. Es geht um den Typen, den du oben einquartiert hast.«
»Ach, du Scheiße. Hat er was verbrochen?«
Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

7. Kapitel
Pikou bellte sich die Seele aus dem Leib, Madame Perreira öffnete ihre Glastür und legte die Hand auf die Brust.
»Kommen Sie, kommen Sie. Setzen Sie sich.«
»Was ist los?«
»Setzen Sie sich, sage ich.«
Camille schob die Kissen auseinander und zwängte sich mit einer Pohälfte auf die mit Rankenmustern versehene Bank.
»Ich sehe ihn nicht mehr.«
»Wen? Vincent? Aber... Ich habe ihn neulich getroffen, er ging zur Metro.«
»Wann neulich?«
»Ich weiß nicht mehr. Anfang der Woche.«
»Und ich sage Ihnen, daß ich ihn nicht mehr sehe! Er ist verschwunden. Mit meinem Pikou, der uns jede Nacht wach macht, kann er mir nicht entwischen, wie Sie sich denken können. Und jetzt, finito. Ich habe Angst, daß ihm was zugestoßen ist. Man müßte mal nachschauen, meine Liebe. Nach oben gehen.«
»In Ordnung.«
»Heiliger Bimbam. Glauben Sie, er ist tot?«
Camille öffnete die Tür.
»Hören Sie. Wenn er tot ist, kommen Sie sofort zu mir. Es ist nur...« fügte sie hinzu und befingerte ihr Medaillon, »ich will keinen Skandal hier im Haus, verstehen Sie?«


8. Kapitel
Ich binÕs, Camille, machst du mir auf?«
Bellen und Verwirrung.
»Machst du mir auf, oder soll jemand die Tür aufbrechen?«
»Ich kann nicht«, sagte eine rauhe Stimme. »Mir gehtÕs zu schlecht. Komm später wieder.«
»Wann später?«
»Heut abend.«
»Brauchst du was?«
»Nein. Laß mich.«
Camille kam noch einmal zurück:
»Soll ich deinen Hund ausführen?«
Keine Antwort.

Langsam ging sie die Treppe hinunter.
Sie saß in der Klemme.
Sie hätte ihn nie hierherholen dürfen. Mit anderer Leute Eigentum großzügig umgehen, das war leicht. Ja, ja, das ist schon klar, nun hatte sie ihren Heiligenschein! Einen Fixer im siebten Stock, eine Oma in ihrem Bett, diese kleine Welt, für die sie die Verantwortung trug, und sie, die sich immer am Geländer festhalten mußte, um nicht auf die Schnauze zu fallen. Ein super Motiv. Applaus. Was für eine Glorie, wahrhaftig. Bist du jetzt zufrieden mit dir? Stören dich die Flügel nicht beim Laufen?
Ach, halt die Klappe. Sicherer ist, wenn man nichts macht?
Nein, wir sagen doch nur... äh... nimmÕs nicht persönlich, aber es gibt noch mehr Penner auf der Straße. Direkt vor der Bäckerei zum Beispiel ist noch einer. Warum liest du den nicht auf? Weil er keinen Hund hat? Scheiße, wenn er das wüßte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.12.2005