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Nicht in ihrem Viertel, wo die Friseure unerschwinglich waren (»Wer soll das sein, Myriam?« hatte ihr dieser Blödmann von Franck geantwortet, »ich kenne keine Myriam«), sondern an der Endhaltestelle einer Buslinie. Camille studierte ihren Plan, folgte der Busroute mit dem Finger, suchte nach etwas Exotischem, zerpflückte die gelben Seiten, bat um Kostenvoranschläge für eine wöchentliche Wasserwelle und entschied sich für einen kleinen Salon in der Rue des Pyrénées, letzte Zone der Linie 69.

In Wahrheit rechtfertigte die Preisdifferenz keine derartige Expedition, aber es war ein schöner Ausflug.

Und jeden Freitag, am frühen Morgen, wenn die Stadt erwachte, setzte sie Paulette ganz zerknautscht ans Busfenster und hielt Paris by day fest, indem sie im Vorbeifahren - in ihr Heft und je nach Stau - ein Pudelpaar mit Burberry-Mantel auf dem Pont Royal einfing, das Hackfleischmuster der Mauern des Louvre, die Käfige und die Buchsbäume des Quai de la Mégisserie, den Sockel des Genies der Bastille oder den oberen Teil der Familiengrüfte auf dem Friedhof Père-Lachaise, anschließend las sie von schwangeren Prinzessinnen und verlassenen Sängern, während ihre Freundin unter der Trockenhaube strahlte. Sie aßen in einer Kneipe an der Place Gambetta. Nicht im Gambetta, das für ihren Geschmack zu hip war, sondern in der Bar du Métro, die nach kaltem Rauch, nach gescheiterten Millionären und gereizter Bedienung roch.

Paulette, die sich ihres Katechismus erinnerte, nahm jedesmal eine gebackene Forelle mit Mandeln, und Camille, die keine moralischen Bedenken kannte, biß in einen Croque-Monsieur und schloß dabei die Augen. Sie bestellten einen Krug Wein, na klar, und stießen von Herzen damit an. Auf uns! Auf dem Nachhauseweg setzte sie sich ihr gegenüber und malte exakt dieselben Dinge, nur mit dem Blick auf eine kleine schmucke, übermäßig herausgeputzte Dame, die sich nicht gegen die Scheibe zu lehnen wagte, aus Angst, ihre blaßlila Löckchen plattzudrücken. (Johanna, die Friseuse, hatte sie davon überzeugt, eine andere Farbe zu nehmen: »Dann sind Sie also einverstanden? Ich nehme für Sie eine aschblonde Opaline, ja? Sehen Sie, Nummer 34, hier.« Paulette wollte Camille mit Blicken befragen, aber diese war in eine Geschichte über eine mißglückte Fettabsaugung vertieft. »Wirkt das nicht ein wenig traurig?« fragte sie beunruhigt. »Traurig! Überhaupt nicht! Im Gegenteil, richtig fröhlich!«)

In der Tat, das... das war das Wort. Es wirkte sehr fröhlich, und noch am selben Tag stiegen sie an der Ecke zum Quai Voltaire aus, um bei Sennelier Künstlerbedarf unter anderem einen kleinen Topf Aquarellfarbe zu kaufen.
Paulettes Haare waren von einem stark verdünnten Rosa mit Goldstich zu einem Windsor-Violett übergegangen.
Ah! Es war sofort viel schicker.

An den übrigen Tagen stand der Monoprix auf dem Programm.Sie brauchten über eine Stunde, um zweihundert Meter zurückzulegen, kosteten den neuen Danette, machten bei idiotischen Meinungsumfragen mit, probierten Lippenstifte oder schreckliche Schals aus Musselin. Sie trödelten, schwatzten, blieben unterwegs stehen, kommentierten das Aussehen der vornehmen Damen des 7. Arrondissements und die Fröhlichkeit der Jugendlichen. Ihre Lachanfälle, ihre hirnrissigen Geschichten, das Bimmeln ihrer Handys und ihre Rucksäcke, in denen viel Kleinkram aneinanderklapperte. Sie amüsierten sich, seufzten, mokierten sich und erholten sich behutsam. Sie hatten die Zeit, das Leben vor sich...


5. Kapitel
Wenn Franck nicht für das leibliche Wohl sorgte, übernahm Camille diese Aufgabe. Einige verkochte Nudeln, mißglückte Tiefkühlgerichte und verbrannte Omelettes später war Paulette entschlossen, ihr die Grundzüge des Kochens beizubringen. Sie saß vor dem Gasherd und lehrte sie so einfache Wörter wie: Kräutersträußchen, gußeiserner Schmortopf, heiße Bratpfanne und Gemüsebrühe. Sie sah nicht mehr gut, aber mit Hilfe der Nase konnte sie ihr das weitere Vorgehen diktieren. Die Zwiebeln, den Speck, die Fleischstücke, so istÕs gut, bestens. Jetzt mit Wasser ablöschen. Nur zu, ich sag Bescheid. Gut so!

»Sehr schön. Ich will nicht behaupten, daß ich aus dir eine Spitzenköchin mache, aber nun gut.«
»Und Franck?«
»Was ist mit Franck?«
»Haben Sie ihm alles beigebracht?«
»Nicht alles, nein! Ich habe ihn auf den Geschmack gebracht, glaube ich. Aber die großen Sachen, die hat er nicht von mir. Ich habe ihm die Alltagsküche gezeigt. Einfache, rustikale und preiswerte Gerichte. Als mein Mann wegen seinem Herz aufhören mußte, habe ich als Köchin in einem vornehmen Haushalt angefangen.«
»Und er kam mit?«
»Natürlich! Was sollte ich mit ihm machen, als er klein war? Gut, später ist er dann nicht mehr mitgekommen, das ist klar. Später...«
»Was später?«
»Ach, du weißt ja, wie es ist. Später wußte ich kaum noch, wo er sich rumtrieb. Aber... Er war begabt. Er hatte ein Händchen dafür. Die Küche war der einzige Ort, an dem er einigermaßen ruhig war.«
»Das ist nach wie vor so.«
»Hast du ihn schon gesehen?«
»Ja. Er hat mich letztens als Aushilfe mitgenommen und... Ich habe ihn nicht wiedererkannt!«
»Siehst du. Dabei, wenn du wüßtest, was für ein Drama es war, als wir ihn in die Lehre geschickt haben. Wie böse er auf uns war.«
»Was wollte er denn machen?«
»Nichts. Dummheiten. Camille, du trinkst zu viel!«
»Machen Sie Witze? Ich trinke fast nichts mehr, seit Sie hier sind! Hier, ein Schlückchen Wein ist gut für die Durchblutung. Das ist nicht von mir, sondern von der Ärzteschaft.«
»Einverstanden. Ein Gläschen, also.«
»Und? Ziehen Sie nicht so ein Gesicht! Macht der Alkohol Sie melancholisch?«
»Nein, die Erinnerungen...«
»War es hart?«
»Manchmal ja...«
»Er war hart, nicht wahr?«
»Er, das Leben...«
»Er hat mir davon erzählt...«
»Was?«
»Von seiner Mutter. Daß sie gekommen ist, um ihn zu sich zu nehmen, und das alles.«
»Weißt du, das... das Schlimme am Altern ist - komm, schenk mir noch ein Glas ein -, ist nicht so sehr, daß einen der Körper im Stich läßt, nein, es sind die Gewissensbisse. Wie sie einen heimsuchen, quälen. Am Tag. In der Nacht. Die ganze Zeit. Es kommt der Moment, wo man nicht mehr weiß, ob man die Augen offenhalten oder zumachen soll, um sie zu verscheuchen. Es kommt der Moment, wo... Gott weiß, daß ich es versucht habe. Ich habe versucht zu verstehen, warum es nicht geklappt hat, wann alles schiefgelaufen ist, alles... alles. Und...«
»Und?«
Sie zitterte:
»Ich schaffe es nicht. Ich verstehe es nicht. Ich...«
Sie weinte:
»Wo soll ich anfangen?«
»Zuerst einmal habe ich spät geheiratet. Oh! Ich hatte meine Liebschaften, wie die anderen auch. Aber dann... Am Ende habe ich einen netten Jungen geheiratet, um es allen recht zu machen. Meine Schwestern waren schon unter der Haube. Und so habe ich auch geheiratet.
Aber die Kinder blieben aus. Jeden Monat habe ich meinen Bauch verflucht und beim Wäschekochen geweint. Ich war bei Ärzten, ich kam sogar hierher, nach Paris, um mich untersuchen zu lassen. Ich habe Heilkundler aufgesucht und Medizinfrauen, schreckliche Alte, die mir die unmöglichsten Sachen auftrugen. Sachen, die ich gemacht habe, Camille, die ich gemacht habe, ohne zu murren. Bei Vollmond ein Lamm opfern, ein Weibchen, sein Blut trinken, seine... essen. Oh nein. Es war wirklich barbarisch, glaub mir. Es war ein anderes Jahrhundert. Man nannte mich ÝbeflecktÜ. Und dann die Pilgerreisen... Jedes Jahr bin ich nach Blanc gepilgert, hab einen Finger in das Loch des heiligen Génitour gesteckt, danach habe ich den heiligen Greluchon in Gargilesse gekratzt. Du lachst?«
»Diese Namen...«
»Das war noch nicht alles. Man mußte dem heiligen Grenouillard von Preuilly ein wächsernes Votivbild hinlegen, auf dem das gewünschte Kind abgebildet war.«
»Grenouillard?«
»Grenouillard, wenn ichÕs dir sage! Ach! Was waren sie schön, meine wächsernen Babys, das kannst du mir glauben. Richtige Püppchen. Ihnen fehlte nur noch die Sprache. Und dann, eines Tages, als ich es schon lange aufgegeben hatte, wurde ich schwanger. Ich war schon weit über Dreißig. Du kannst dir das nicht vorstellen, aber ich war schon alt. Mit Nadine, Francks Mutter. Was haben wir sie verwöhnt, was haben wir sie verhätschelt, was haben wir sie verzärtelt, die Kleine. Unsere Königin. Wir haben ihr wohl den Charakter verdorben, muß man annehmen. Wir haben sie zu sehr geliebt. Oder nicht richtig. Wir haben ihr alles durchgehen lassen... Alles bis auf eins. Ich habe mich geweigert, ihr das Geld für die Abtreibung zu borgen. Ich konnte es nicht, verstehst du? Ich konnte es nicht. Ich hatte zu sehr gelitten. Es war nicht die Religion, die Moral, das Getratsche der Leute, das mich abgehalten hat. Es war die Wut. Die Wut. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.12.2005