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Proteststürme,
Pannen und
Perspektiven

Ein Jahr »Hartz IV« in Bielefeld

Von Michael Schläger
Bielefeld (WB). Selten hat eine Sozialreform schon vorab für soviel Protest und Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt wie Hartz IV, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Seit bald einem Jahr wird das neue »Arbeitslosengeld II« auch in Bielefeld ausgezahlt. Dass ein erkennbarer Rückgang bei den Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen ist, ist für Kenner der Szene aber eher auf die Konjunkturbelebung denn auf die Arbeitsmarktreform zurückzuführen.

Mit 16,6 Prozent hatte die Arbeitslosigkeit im Februar dieses Jahres einen traurigen Höchststand erreicht. Fast 27 000 Menschen waren in der Stadt ohne Job. Im November waren es noch 22 055, lag die Quote bei 13,6 Prozent. Fast zwei Drittel von ihnen sind Arbeitslosengeld-II-Empfänger, also Langzeitarbeitslose.
Zu den fast 15 000 Hartz-IV-Fällen in der Arbeitslosenstatistik gesellen sich noch die Bezieher der Leistung hinzu, die, wie es im Amtsdeutsch heißt, für eine Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. »Arbeitplus in Bielefeld«, die gemeinsam von Arbeitsagentur und Stadt gegründete Gesellschaft zur Betreuung der Hartz-IV-Empfänger, kommt auf 20 500 Bedarfsgemeinschaften. Im April waren es noch 19 600. Das sind meist Familien, Alleinerziehende oder auch pflegende Angehörige.
Die Zahl hat es in sich. Die Arbeitsagentur registriert 2000 weniger Bedarfsgemeinschaften. Arbeitsagentur-Chef Dr. Peter Glück spricht von Abstimmungsproblemen. Bei Arbeitplus schiebt man solche Abweichungen auf die mangelhafte Computer-Software aus der Nürnberger Arbeitsagentur-Zentrale. Der städtische Sozialdezernent Tim Kähler will das städtische Rechnungsprüfungsamt einschalten.
Das jüngste Problem reiht sich in eine Reihe von Pannen und organisatorischen Anlaufschwierigkeiten. Computerprobleme standen obenan. Dann ging's ums Personal, das nicht schnell genug von der Arbeitsagentur abgeordnet worden sei.
Aber Rainer Radloff, der Geschäftsführer von Arbeitplus, betont stets, dass die Umsetzung einer vollkommen neuen Sozialleistungen die Praxis eben auch etwas völlig Neues für die Arbeits- und Sozialverwaltungen sei. »Da sind auch unterschiedliche Auffassungen aufeinander getroffen«, räumt Glück ein. Heute kümmern sich rund 300 Mitarbeiter bei Arbeitplus um die 20 500 Bedarfsgemeinschaften. Sie sorgen dafür, dass Leistungen gezahlt werden und dass die Betroffenen sich weiter qualifizieren können.
Bundesweite Phänomene sind auch an Bielefeld nicht vorbeigegangen. So ist die Zahl der »Bedarfsgemeinschaften« auch deshalb so hoch, weil mancher junge Mensch daheim ausgezogen ist und sich die »eigene Bude« aus dem Hartz-IV-Topf bezahlen lässt. Regeländerungen sind in Aussicht gestellt. Und auch in Bielefeld wird jetzt genauer geprüft, ob der von einem Hartz-IV-Empfänger angemietete Wohnraum tatsächlich so teuer sein muss. Bei 4,64 Euro je Quadratmeter liegt der Richtwert. Sieben Euro mussten schon mal gezahlt werden.
Und die Kunden von Arbeitplus? Die beklagen, dass sie es teilweise mit drei Ansprechpartnern an drei verschiedenen Adressen in der Stadt zu tun haben. »Beantragen muss ich das Arbeitslosengeld II im Rathaus, die Vermittlung ist im alten Arbeitsamt an der Karl-Eilers-Straße und mein Fallmanager sitzt im Haus der früheren WestLB«, erzählt einer.
Immerhin 850 Ein-Euro-Jobber hat Arbeitplus inzwischen vermittelt. Sie bessern ihr »ALG II« auf, sammeln berufliche Praxis. Und auch Qualifizierungsmaßnahmen sind angelaufen. »Hartz IV« hat auch Perspektiven eröffnet.

Artikel vom 15.12.2005