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Oder aber ich gehe in der Galerie vorbei? Gebe meinen Karton bei Sophie ab und verdrücke mich gleich wieder?

Außerdem, vielleicht legen wir uns ja gar nicht hin... Vielleicht bleiben wir ja stehen, wie im Film, und sind ganz... eh....

Nein, das ist keine gute Idee... Wenn er da ist, wird er mich zurückhalten und mich zwingen, mit ihm zu reden... Ich will aber gar nicht reden. Mir ist sein Gelaber egal. Entweder er nimmtÕs oder er nimmtÕs nicht. Fertig, aus. Und sein Geblubber kann er sich für seine Kunden aufsparen...

Ich werde in der Umkleide duschen, bevor ich gehe...
Ich nehme ein Taxi und bitte den Fahrer, vorm Eingang in zweiter Reihe zu warten...

Die Besorgten und die Sorglosen, alle wischten seufzend ihre Krumen weg und gingen brav auseinander.

Philibert war bereits in der Diele. Mit der einen Hand hielt er Franck die Tür auf, in der anderen trug er einen Koffer.
»Fährst du in Urlaub?«
»Nein, das sind Requisiten.«
» Wofür das denn?«
»Für meine Rolle...«
»Oh wow... Was ist das denn für ein Stück? So eine Mantel-und-Degen-Schwarte? Stürmst du durch die Gegend und so?«
»Aber natürlich... Ich baumele im Vorhang und werfe mich in die Menge... Los... Hinaus mit dir, oder ich spieß dich auf...«

Himmelblau verpflichtet: Camille und Paulette gingen »in den Garten«.
Der alten Frau fiel das Gehen zusehends schwerer, und sie brauchten fast eine Stunde für die Allée Adrienne-Lecouvreur. Camille kribbelte es in den Beinen, sie hakte sie unter, stellte sich auf ihre kleinen Schritte ein und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie das Schild Nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern vorbehalten, bitte Tempo mäßigen sah... Sie blieben nur stehen, um Touristen zu fotografieren, Jogger vorbeizulassen oder mit anderen Marathonläufern in Mephistoschuhen ein paar nichtssagende Worte zu wechseln.
»Paulette?«
»Ja, meine Kleine?«
»Schockiert es Sie sehr, wenn ich das Thema Rollstuhl anschneide?«
»...«
»Tja... Es schockiert Sie also...«
»Bin ich denn schon so alt?« flüsterte sie.
»Nein! Keineswegs! Im Gegenteil! Ich dachte nur... da wir mit Ihrem Wägelchen ständig steckenbleiben, könnten Sie so lange damit gehen, bis Sie müde sind. Anschließend könnten Sie sich ausruhen, und ich nehme Sie mit bis ans Ende der Welt!«
»...«
»Paulette... Ich habe diesen Park über. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich glaube, ich habe alle Steine, alle Bänke und alle Beutelboxen für Hundekot gezählt. Es sind elf insgesamt. Ich habe diese schrecklichen Busse über, ich habe diese phantasielosen Gruppen über, ich bin es leid, immer wieder denselben Leuten zu begegnen. Der blöden Fratze der Wächter und dem anderen Typen, der hinter seinem Ehrenlegionsabzeichen nach Pisse stinkt. Es gibt in Paris noch so viel zu sehen. Läden, kleine Gäßchen, Hinterhöfe, überdachte Passagen, den Luxembourg, die Bouquinisten, den Park von Notre-Dame, den Blumenmarkt, die Seine-Ufer, den... Nein, ich sage Ihnen, die Stadt ist wunderschön. Wir könnten ins Kino gehen, ins Konzert, Operetten hören, mein schönes Veilchensträußchen und das ganze Tamtam. Im Moment sind wir an dieses Altenviertel gebunden, wo alle Kinder gleich angezogen sind, wo alle Kinderfrauen die gleiche Miene aufsetzen, wo alles so vorhersagbar ist. Das ist ätzend.«
Stille.
Sie wurde auf ihrem Unterarm immer schwerer.

»Na gut, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich versuche gerade, Sie zu beschwatzen, aber in Wahrheit geht es gar nicht darum. In Wahrheit bitte ich Sie um einen Gefallen. Wenn wir einen Rollstuhl hätten und Sie sich von Zeit zu Zeit hineinsetzen würden, könnten wir in den Museen an all den Schlangen vorbei und immer als erste hineingehen. Und mir, verstehen Sie, käme das sehr entgegen. Es gibt zahlreiche Ausstellungen, die ich unbedingt sehen möchte, aber ich habe nicht die Energie, mich anzustellen.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt, du Gänschen! Wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, kein Problem! Mehr will ich ja gar nicht, als dir was Gutes tun!«


Camille biß sich auf die Wangen, um nicht zu lachen. Sie senkte den Kopf und gab ein leises Dankeschön von sich, das ein wenig zu ernst klang, um ehrlich zu sein.
Schnell, schnell! Laßt uns das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Im Eilschritt gingÕs in die nächste Apotheke.

»Wir arbeiten sehr viel mit dem Classic 160 von Sunrise. Das ist ein faltbares Modell, das unsere Ansprüche zur vollen Zufriedenheit erfüllt. Es wiegt nicht viel, ist einfach zu handhaben, vierzehn Kilo. Neun ohne die Räder. Ausziehbare Fußstütze, die als Fußantrieb dienen kann. Armstützen und Höhe der Rückenlehne verstellbar... Verstellbarer Neigungswinkel der Sitzfläche. Ach nein! Das ist die Sonderausstattung. Leicht abnehmbare Räder. Paßt problemlos in jeden Kofferraum. Verstellbar auch die Höhe des... eh...«

Paulette, die sie zwischen Trockenshampoos und den Ständer mit Fußpflegeprodukten plaziert hatten, zog ein derart langes Gesicht, daß die Apothekenhelferin nicht wagte, ihren Monolog zu Ende zu führen.
»Gut, bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe Kundschaft. Hier, das ist die Beschr...«

Camille kniete hinter ihr auf dem Boden.
»Nicht schlecht, oder?«
»...«
»Ehrlich gesagt hatte ich es mir schlimmer vorgestellt. Ein sportliches Modell ist das. In Schwarz wie der hier sogar richtig chic.«
»Also wirklich! Sag doch gleich, daß er mir gut steht, wenn du schon dabei bist!«
»Sunrise Medical. Die haben aber auch Namen.37... Das ist doch bei Ihnen in der Nähe, oder?«
Paulette setzte die Brille auf:
»Wo?«
»Hm... Chanceaux-sur-Choisille.«
»Oh! Ja, natürlich! Chanceaux! Ich weiß genau, wo das ist!«
Alles klar.
Gott seiÕs gedankt. Ein Departement weiter, und es wären ein Pediküre-Set und orthopädische Hausschuhe dabei herausgekommen...

»Wie teuer kommt der?«
»558 Euro plus Mehrwertsteuer...«
»Alle Achtung... Können... können wir den nicht mieten?«
»Nicht dieses Modell. Zum Mieten gibt es ein anderes. Robuster und schwerer. Aber Ihre Versicherung deckt doch alles ab, oder? Sie haben doch eine Zusatzversicherung, nehme ich an...«
Sie hatte das Gefühl, mit zwei alten zurückgebliebenen Jungfern zu sprechen.
»Sie werden den Rollstuhl doch nicht selbst bezahlen! Gehen Sie zu Ihrem Arzt und lassen Sie ihn sich verschreiben... In Ihrem Zustand dürfte das kein Problem sein... Hier, ich gebe Ihnen diese kleine Broschüre mit... Darin finden Sie alle Angaben... Haben Sie einen Hausarzt?«
»Eh...«
»Wenn er sich damit nicht auskennt, zeigen Sie ihm diesen Code hier: 401 A02.1. Den Rest besprechen Sie dann mit Ihrer CKV, nicht wahr?«
»Ah... Natürlich... ähm... Was ist das?«

Wieder auf dem Bürgersteig, geriet Paulettes Bereitwilligkeit ins Wanken.
»Wenn du mit mir zum Arzt gehst, wird er mich wieder ins Altenheim stecken...«
»He! Paulette, ganz ruhig... Wir gehen nicht zum Arzt, ich mag Ärzte genausowenig wie Sie, wir kriegen das schon hin... Machen Sie sich keine Sorgen...«
»Sie werden mich finden... Sie werden mich finden...« weinte sie.
Sie hatte keinen Appetit und saß den ganzen Nachmittag niedergeschlagen auf ihrem Bett.


»Was hat sie denn?« fragte Franck beunruhigt.
»Nichts. Wir waren in der Apotheke, um uns nach einem Rolli zu erkundigen, und als die gute Frau meinte, daß wir zum Arzt müßten, hat sie das traumatisiert...«
»Was für einem Rolli?«
»Na ja, einem Rollstuhl halt!«
»Wozu denn das?«
»Na ja, um damit durch die Gegend zu fahren, du Idiot! Um was zu sehen!«
»Was machst du aber auch, verdammt noch mal? Es geht ihr hier doch gut! Warum willst du sie denn durchschütteln wie eine Flasche Orangina?«
»Oh... Du gehst mir langsam tierisch auf den Geist, weißt du das? Dann kümmer du dich doch um sie! Dann wisch du ihr doch von Zeit zu Zeit den Hintern ab, das würde dir den Kopf zurechtrücken. Ich hab kein Problem damit, sie zu betreuen, deine Oma ist absolut goldig, aber ich muß mich bewegen, ich muß hier raus, auf andere Gedanken kommen, verdammt! Für dich ist es ideal, so wieÕs im Moment läuft, das ist klar. Oder geht dir irgendwas gegen den Strich, nein? Philou, Paulette und dir, euch reicht der Auslauf zwischen Wohnung, Ham-ham, Job und Heiabett... Aber mir nicht! Allmählich ersticke ich hier! (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.12.2005