27.12.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Ist bei dir eine Schraube locker?«
»Jaaaa.«
»He! Du bist total niedlich, wenn du glücklich bist, weißt du das?«
Das jedoch verstand sie nicht, und so nickte sie aufs Geratewohl.

»Oh, oh«, meinte der Chef, als er ihr den Teller hinstellte, »ich will ja nichts sagen, aber manche haben echt Glück.«

Das Fleisch hatte die Form eines Herzens.

»Ah, was er alles kann, dieser Lestafier«, seufzte er, »was der alles kann.«
»Und was er gut aussieht«, fügte seine Großmutter hinzu, die ihn seit zwei Stunden mit den Augen verschlang.
»Jooaa... So weit würde ich nicht gehen. Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten? Einen kleinen Côtes-du-Rhône, dann stoß ich mit Ihnen an. Und Sie, Werteste? Ist Ihr Dessert noch nicht gekommen?«
Einmal geblafft, schon rückte Paulette ihrem Nachtisch zu Leibe.

»Sagen Sie«, fügte er hinzu und schnalzte mit der Zunge, »er hat sich ganz schön gemacht, Ihr Enkel. Ich erkenne ihn kaum wie-der.«
An Camille gewandt:
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Nichts.«
»Großartig! Weiter so! Das bekommt ihm sehr gut! Nein, ernsthaft. Er ist gut, der Kleine. Er ist gut.«
Paulette weinte.
»Was denn? Was hab ich denn gesagt? Trinken Sie, zum Donnerwetter! Trinken Sie! Maxime...«
»Ja, Chef?«
»Bringen Sie mir bitte einen Sektkelch.«

»Besser jetzt?«
Paulette schneuzte sich und entschuldigte sich dabei:
»Wenn Sie wüßten, was es für ein Leidensweg war. Von der ersten Schule ist er geflogen, dann von der zweiten, bei der Gesellenprüfung, von seinen Praktikumsstellen, in der Lehre, von...«
»Aber das zählt doch alles gar nicht!« dröhnte er. »Sehen Sie ihn sich an! Wie er alles beherrscht! Sie wollen ihn mir alle abwerben! Irgendwann wird er ein, zwei Plaketten einheimsen, Ihr Lämmchen!«
»Pardon?« fragte Paulette beunruhigt.
»Sterne.«
»Ach so. Nicht drei?« fragte sie ein wenig enttäuscht.
»Nein. Dafür ist sein Charakter zu mies. Und außerdem ist er zu... sentimental...«
Augenzwinkern in Richtung Camille.
»Schmeckt das Fleisch überhaupt?«
»Sehr lecker.«
»Natürlich. Gut, ich muß los. Wenn Sie was brauchen, klopfen Sie an die Scheibe.«


Als er in die Wohnung zurückkehrte, schaute Franck zuerst bei Philibert herein, der unter seiner Nachttischlampe saß und an einem Stift kaute:
»Stör ich?«
»Keineswegs!«
»Wir sehen uns überhaupt nicht mehr.«
»Nicht mehr häufig, das ist zutreffend. Arbeitest du eigentlich immer noch sonntags?«
»Ja.«
»Na, dann komm doch montags bei uns vorbei, wenn du dich langweilst.«
»Was liest du da?«
»Ich schreibe.«
»An wen?«
»Ich schreibe einen Text für mein Theater. Bedauerlicherweise sind wir alle verpflichtet, Ende des Jahres auf der Bühne zu stehen.«
»Lädst du uns dazu ein?«
»Ich weiß nicht, ob ich es wage.«
»He, sag mal,läuft alles gut?«
»Pardon?«
»Zwischen Camille und meiner Alten?«
»Ein Herz und eine Seele.«
»Meinst du nicht, es ist ihr zuviel?«
»Soll ich dir sagen, was ich denke?«
»Ja?« fragte Franck beunruhigt.
»Nein, es ist ihr nicht zuviel, aber das wird kommen. Weißt du noch. Du hattest ihr versprochen, sie zwei Tage die Woche zu entlasten. Du hattest versprochen, einen Gang zurückzuschalten.«
»Jaa, ich weiß, aber ich...«
»Halt«, unterbrach er ihn. »Erspar mir deine Ausreden. Die interessieren mich nicht. Weißt du, du mußt mal erwachsen werden, mein Junge. Das ist dasselbe wie hier.« Er zeigte auf sein Heft voller durchgestrichener Absätze, »ob man will oder nicht, da müssen wir eines Tages alle durch.«

Nachdenklich stand Franck auf.
»Sie würde es doch sagen, wenn es ihr zuviel wäre, oder?«
»Meinst du?«
Er sah durch seine Brillengläser, die er gerade putzte.
»Ich weiß nicht. Sie ist so voller Geheimnisse. Ihre Vergangenheit. Ihre Familie. Ihre Freunde. Wir wissen nichts über diese junge Frau. Ich für mein Teil verfüge neben ihren Heften über keinerlei Anhaltspunkt, der mir gestattete, auch nur die geringste Hypothese zu ihrer Biographie anzustellen. Keine Post, keine Telefonanrufe, niemals Gäste. Stell dir vor, wir würden sie eines Tages verlieren, wir wüßten nicht einmal, an wen wir uns zu wenden hätten.«
»Sag nicht so was.«
»Doch, das sage ich. Denk darüber nach, Franck, sie hat mich überzeugt, sie hat Paulette mitgenommen, hat ihr Zimmer abgetreten, heute kümmert sie sich unglaublich liebevoll um sie, nein, sie kümmert sich nicht um sie, sie sorgt für sie. Sie sorgen beide füreinander... Wenn ich da bin, höre ich sie den ganzen Tag lachen und schwatzen. Außerdem versucht sie, nachmittags zu arbeiten, und du bist nicht einmal imstande, deine Versprechen zu halten.«

Er setzte seine Brille wieder auf und nahm ihn einige Sekunden ins Visier:
»Nein, ich bin wirklich nicht sehr stolz auf Sie, Soldat.«

Mit Blei an den Beinen ging er sie anschließend zudecken und stellte den Fernseher aus.
»Komm mal her«, flüsterte sie.
Verdammt. Sie schlief gar nicht.
»Ich bin stolz auf dich, mein Kleiner.«
Da soll sich noch einer auskennen, dachte er und legte die Fernbedienung auf den Nachttisch.
»Komm, Omi. Schlaf jetzt.«
»Sehr stolz.«
Ja, ja. Bestimmt.

Die Tür zu Camilles Zimmer stand halb offen. Er stieß sie auf und fuhr zusammen.
Das fahle Flurlicht fiel auf ihre Staffelei.

Er verharrte einen Augenblick regungslos.
Erstaunen, Erschrecken und Bewunderung.
Hatte sie wieder einmal recht?
Konnte man Dinge verstehen, ohne sie gelernt zu haben?
War er am Ende vielleicht gar nicht so dumm? Weil er instinktiv die Hand nach diesem Körper ausgestreckt hatte, um ihm aufzuhelfen, war er vielleicht gar nicht so beschränkt?

Spinnen am Abend, erdrückend und darbend. Er zerdrückte sie und holte sich ein Bier.
Er ließ es schal werden.
Er hätte sich nicht im Flur herumtreiben sollen.
Dieses ganze Chaos brachte seine Navigationssysteme durcheinander.
Verflucht.
Wobei, im Moment gingÕs ja ganz gut. Wo sich das Leben ausnahmsweise mal von seiner netten Seite zeigte.
Sofort nahm er die Hand vom Mund. Seit elf Tagen kaute er nicht mehr an den Nägeln. Nur noch am kleinen Finger.
Aber der zählte nicht.

Groß werden, groß werden. Etwas anderes hatte er nicht getan, als groß zu werden.
Was würde aus ihnen allen werden, wenn sie verschwand?

Er rülpste. Gut, es gab noch was zu tun, ich habe einen Crêpeteig vorzubereiten.
Es war der Gipfel der Hingabe, daß er ihn mit dem Schneebesen anrührte, um sie nicht zu stören, ein paar geheime Zauberformeln murmelte und ihn ruhen ließ.
Er deckte ihn mit einem sauberen Geschirrhandtuch zu, rieb sich die Hände und verließ die Küche.

Morgen würde er ihr Crêpes Suzette machen, um sie für immer zu halten.

Ho ho ho. Allein vorm Badezimmerspiegel imitierte er das dämonische Lachen von Fred Fiesling aus Wacky Races.

Hu, hu, hu. Das war das Lachen von Teufelszahn.

Oh Mann, war das witzig.


13. Kapitel
Schon lange hatte er die Nacht nicht mehr mit ihnen verbracht. Es waren schöne Träume gewesen.

Am nächsten Morgen holte er Croissants, und sie frühstückten gemeinsam in Paulettes Zimmer. Der Himmel war sehr blau. Philibert und sie ergingen sich in tausend Höflichkeiten, während Franck und Camille sich still an ihren Schalen festhielten.
Franck fragte sich, ob er das Bettzeug wechseln sollte, und Camille fragte sich, ob sie einiges anders handhaben sollte. Er suchte ihren Blick, doch sie war nicht mehr da. Sie war bereits in der Rue Séguier, in Pierre und Mathildes Salon, kurz davor, zu kneifen und zu fliehen.

Wenn ich es jetzt wechsle, traue ich mich nicht mehr, mich ein Stündchen hinzulegen, und wenn ich es nach dem Mittagsschlaf wechsle, wirkt es ein bißchen plump, oder? Ich hör sie schon kichern...

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.12.2005