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Acht Minuten pro Patient: Ärzte protestieren gegen Klinikalltag

Erster Streik an einem städtischen Krankenhaus im letzten Moment abgesagt

Von Christian Althoff und
Jörn Hannemann (Fotos)
Bad Oeynhausen (WB). Neun Stunden lang wollten Ärzte gestern das Städtische Krankenhaus in Bad Oeynhausen bestreiken - doch dann musste es bei einer kurzen Protestaktion während der Frühstückspause bleiben.

Internistin Heidi Jungheim ist sauer, als sie an diesem Dienstagmorgen um 7.15 Uhr das Krankenhaus erreicht. In aller Eile hat sie zu Hause ein Stück Pappe beschriftet, mit dem sie jetzt ihre Kollegen informiert, dass der Ärztestreik ausfällt. »Vier Tage haben wir alles vorbereitet, und dann so etwas!«, sagt die Medizinerin enttäuscht. In der Nacht hatte der Klinikärzteverband »Marburger Bund« seinen Streikaufruf zurückgezogen, aber nicht alle Organisatoren vor Ort informiert. »Ich hab's durch Zufall im Radio gehört«, sagt Heidi Jungheim und ist damit vielen ihrer Kollegen voraus, die in diesen Minuten bei eisigen Temperaturen streikbereit mit Trillerpfeifen, Plakaten und Spruchbändern vor dem Krankenhaus eintreffen.
60 Ärzte arbeiten gewöhnlich in dem 386-Betten-Haus, 25 sollten heute streiken. »Auf diese Weise hätten wir eine Wochenendbesetzung gehabt und die Versorgung der Kranken trotz Streiks sichergestellt«, sagt Internistin Julia Holtmann. Nur die Geburtshilfestation sollte an diesem Tag vom personellen Aderlass verschont bleiben.
»Unsere Arbeitsbedingungen sind unzumutbar«, wettert Assistenzarzt Walter Zuther, einer der streikbereiten Mediziner. »Wenn ich zusätzlich zu meiner 38,5-Stunden-Woche samstags oder sonntags in der Chirurgie 24 Stunden Bereitschaft habe, muss ich mich auf fünf Stationen um insgesamt 120 Patienten kümmern. Dazu kommen durchschnittlich 60 Verletzte, die sich in der Ambulanz melden. Ohne Pause habe ich also für jeden Kranken acht Minuten Zeit!« Zur steigenden Arbeitsbelastung komme ein sinkendes Gehalt, erklärt Heidi Jungheim: »Uns soll statt des Bundesangestelltentarifvertrages der schlechtere Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes aufgezwungen werden. Der kostet einen Berufseinsteiger nach zehn Jahren 31 000 Euro!«
Während die Ärzte draußen verabreden, zumindest in der Frühstückspause ihre Protestplakate vor dem Krankenhaus auszurollen, läuft drinnen beinahe alles wie gewohnt. »Wir werden bestens versorgt!«, bestätigt Patientin Käte Sogemeyer von Zimmer 106, die einen Oberschenkelbruch auskuriert. Die Frau hat Verständnis für das Anliegen der Ärzte: »Die arbeiten doch unter einem ungeheuren Druck. Ich staune nur, dass ich trotzdem zuvorkommend behandelt worden bin, als ich nachts eingeliefert wurde.«
Ein Stockwerk höher ist der leitende Unfallchirurg Dr. Mirko Schneider gerade mit der Visite beschäftigt. Der OP-Plan für diesen Tag war zusammengestrichen worden, nur Notfälle kommen heute unters Messer. So muss sich eine Patientin noch 24 Stunden gedulden, bis ihr großer Zeh gerichtet wird, ein anderer Patient wartet bereitwillig bis zum nächsten Morgen, bevor ihm Metallplatten aus dem Handgelenk entfernt werden. »Wir hatten uns darauf eingestellt, heute zu dritt statt zu acht zu arbeiten«, sagt Chefarzt Dr. Schneider, der hinter den Protesten seiner Kollegen steht: »Schließlich hat es seinen Grund, dass von jährlich 12 500 neuen Medizinern nur noch 7500 als Ärzte arbeiten wollen und die übrigen in die Pharmaindustrie oder zu Krankenkassen wechseln.«
Ganz unbeeindruckt von den Ärzteprotesten zeigen sich an diesem Dienstag im städtischen Krankenhaus nur drei Menschen - knuddelige Babys, die im Laufe des Tages mit Unterstützung von Chefarzt Dr. Manfred Schmitt und seinen Mitarbeitern zur Welt gekommen sind.

Artikel vom 14.12.2005