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Visa-Skandal

Der Absturz des Vizekanzlers

Joschka Fischer, der erste grüne Außenminister Deutschlands, stand jahrelang unangefochten auf Platz eins der Beliebheitsskala.


Der Stern des Vizekanzlers begann zu sinken, als ihn Ende 2004 die Visa-Affäre einholte. »Schreiben Sie rein: Fischer ist schuld«, wurde 2005 zum geflügelten Wort, mit der Deutschlands Chef-Diplomat im Untersuchungsausschuss Versäumnisse bei der Visa-Vergabe in Osteuropa einräumte.
Auslöser der monatelangen Debatte über den Visa-Ansturm in den deutschen Botschaften Osteuropas, Zwangsprostitution und steigende Schleuserkriminalität war der sogenannte Vollmer-Erlass von November 1999, mit dem die Visa-Vergabe liberalisiert werden sollte. Der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer, der im Zuge der Affäre seinen Hut nahm, bestritt am 21. April im Visa-Untersichungsausschuss, er habe die umstrittene Formel »Im Zweifel für die Reisefreiheit« in den Erlass eingefügt. Im übrigen habe damals auch die Opposition eine liberalere Einreiseregelung gewünscht, behauptete Vollmer. Rot-Grün habe mit dem Visa-Erlass humanitäre Probleme lösen und Familienbesuche ermöglichen wollen.
Fischer äußerte sich nach immer heftiger werdenden Vorwürfen der Opposition am 14. Februar erstmals öffentlichlich zur Visa-Affäre und übernahm die politische Verantwortung für Versäumnisse insbesondere bei der Vergabepraxis an der Botschaft in Kiew. Bei der im Fernsehen direkt übertragenen, fast 13-stündigen Befragung im Visa-Ausschuss am 25. April übernahm Fischer erneut die Verantwortung für Fehler, lehnte einen Rücktritt jedoch ab. Der Außenminister ging im Ausschuss auch in die Offensive und beschuldigte die Opposition, den Visa-Missbrauch aus Wahlkampfgründen zu »skandalisieren«.
Er räumte lediglich ein, bei den Missständen in Kiew »nicht früh genug« eingegriffen zu haben. Da er den Visa-Erlass zu verantworten habe, schlug er vor, ihn von nun an »Fischer-Erlass« zu nennen. Union und FDP im Ausschuss werteten die Aussage als »politisches Geständnis«. Die Angelegenheit zeige, dass Fischer »sein Haus nicht im Griff« habe.
Zum Eklat kam es, als SPD und Grüne am 2. Juni angesichts des nahenden Wahlkampfes beschlossen, das missliche Thema vom Tisch zu bekommen. Gegen die Stimmen von Union und FDP setzte Rot-Grün durch, die Beweisaufnahme im Visa-Untersuchungsausschuss zu beenden. Am 15. Juni gab das Bundesverfassungsgericht dem Eilantrag von Union und FDP gegen den Abbruch der Befragungen statt.
Am 15. Juli beendete der Visa-Ausschuss seine Beweisaufnahme, bei der in 31 Sitzungen 58 Zeugen vernommen wurden, mit dem erwarteten Ergebnis. Wahrend Union und FDP schwerwiegende Fehler in der rot-grünen Visa-Politik für nachgewiesen hielten, bestritten SPD und Grüne weiterhin den Vorwurf der Union, die Vergabepraxis des Auswärtigen Amtes habe Prostitution und Menschenhandel gefördert. WB/pe

Artikel vom 31.12.2005