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Medien

2006 entscheidet über die Zukunft des Kinos

Liegen die Gründe für die aktuelle Kinokrise nur bei den in diesem Jahr enttäuschenden Hollywood-Streifen? Oder steckt der Strukturwandel hinter dem spürbaren Rückgang der Kinobesucher?


Von einer vorübergehenden, saisonalen Flaute will Fred Kogel nichts wissen. Der bekannte TV-Macher und Vorstandschef der Constantin Film AG: »Die Videopiraterie hat den Strukturwandel eingeläutet. Dabei muss die derzeitige allgemeine Konsumzurückhaltung als Ausgangspunkt ins Auge gefasst werden.«
Der Besucherrückgang in den Kinos ist kein deutsches Phänomen allein. Im ersten Halbjahr 2005 zählte die Filmförderungsanstalt (FFA) 60,3 Millionen verkaufte Tickets und 352,5 Millionen Euro Umsatz. Das entspricht einem Rückgang um 16,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Auf den asiatischen Märkten gibt es Einbußen bis zu 15 Prozent, in Australien und Neuseeland liegen sie bei 14 Prozent. Und auch der Hauptmarkt schwächelt: In Hollywood geht angesichts der Umsatzkrise die Angst um. Denn die Rezepte und Strategien aus der Traumfabrik gelten als eine Ursache der Kino-Malaise.
1. Hollywood hat eine schlechte Saison erwischt. Die großen Studios produzierten am Geschmack vorbei. Dazu einige Zahlen: Nur drei der zehn stärksten Filme in 2005 haben bei uns die Zwei-Millionen-Besucher-Grenze überschritten: »Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich«, »Star Wars: Episode 3 -ÊDie Rache der Sith« und »Hitch - Der Date-Doktor«. Im Jahre 2004 schafften neun der zehn stärksten Filme diese Hürde. Was noch für das Hollywood-Problem spricht: Einheimische Filme haben ihren Marktanteil deutlich erhöht - von 13,2 Prozent (2004) auf 19,7 Prozent (2005). 11,8 Millionen Zuschauer wollten von Januar bis Juni dieses Jahres einen deutschen Film sehen.
2. Die Verkürzung der Auswertungszeit im Kino bedingt, dass die Zuschauer auf den DVD-Start warten und sich einen Film lieber daheim ansehen. Dazu trägt der Heimkinotrend mit großen LCD-Bildschirmen bei.
3. Zum offiziellen Start eines Films in den Kinos ist dieser bereits als illegale Internet-Raubkopie auf DVD erhältlich. Wozu dann noch ins Kino gehen?
Kino hat an gesellschaftlichem Stellenwert verloren. Ein Kinobesuch ist kein Erlebnis mehr, wenn man nicht gerade auf quatschende Sitznachbarn, Popcornknistern und Handyklingeln steht.
Stell' dir vor, es ist Kino, und keiner geht hin. Bald könnte es heißen: Stell dir vor, es gibt kein Kino mehr, und alle gucken neue Filme sofort auf DVD. Dabei sind die Vorteile des Kinos klar: Leinwandgröße und Klang. Filme wie »Herr der Ringe«, »Star Wars« und »Im Rausch der Tiefe« sind nur im Kino vorstellbar. Komödien wie »American Pie« oder »Alles auf Zucker!« sind im Prinzip TV-Ware und könnten sofort auf DVD starten. Nur: Die Konsumenten wären nicht bereit, die derzeit gängigen DVD-Preise für Neuerscheinungen zu bezahlen. Wenn Filme nur auf DVD starten und zwischen 15 und 20 Euro kosten, stellt sich die Frage: Wie oft will man sich einen Film ansehen, der kein Klassiker ist? Macht die DVD als Erstmedium Sinn? Ein Kinobesuch ist mit sechs Euro viel günstiger, und einmal Sehen reicht meistens aus.
Vor diesem Hintergrund wird sich der Vertrieb von Filmen weiter diversifizieren. Die Auswertung wird direkt zwischen Verleih und Verbraucher stattfinden. »Video on Demand« kann sich dann durchsetzen, weil es etwa so teuer wäre wie eine Kinokarte. Kinos würde es weiter geben, aber weniger Säle wären nötig. Die »Generation D« (D wie digital) hat nach der Musikbranche (CD zu mp3) auch die Filmbranche verändert (Kino zu DVD). Alles Neue wird ergänzend sein, die bestehenden Angebote werden geringere Marktanteile erzielen, aber nicht ganz wegfallen.
In der Branche geht es längst ums Ganze. Alles, was der Filmindustrie dienen könnte, wird als Modell durchgespielt: Verkürzung der exklusiven Kinoauswertung auf sechs bis acht Wochen, simultaner Start von Filmen im Kino, auf DVD und als »Video on Demand«. Für das Filmmarketing brächen dann ohne mehrmonatigen Kinovorlauf neue Zeiten an.
Warum die Studios auf die DVD und ihre nachfolgenden Datenträger setzen, verdeutlicht eine Studie: Im Jahr 2009 sollen die DVD-Umsätze (40 Milliarden Dollar) in den USA viermal so hoch sein wie die Kinoumsätze (10 Milliarden Dollar). Doch so golden leuchtet die DVD-Branche gar nicht: Nur 40 Prozent des DVD-Umsatzes gehen auf Kinofilme. Und den Großteil davon machen Klassiker und nicht Neustarts aus.
Kurzfristig finden Kino-Optimisten noch Gehör. Denn die Saison 2006 verspricht viele lukrative Filme: »Mission: Impossible 3«, »Poseidon« von Wolfgang Petersen, »Da Vinci Code« mit Tom Hanks, die Comicverfilmungen »X-Men 3«, »Sin City 2« und »Superman returns« sowie »Miami Vice« und »Fluch der Karibik 2«. Wenn bei diesem vielversprechenden Angebot in einem Jahr die Zuschauerzahlen nicht spürbar gestiegen sein sollten, wäre die Filmbranche tatsächlich in einer existenziellen Krise.
2006 wird entscheiden, ob das Massenmedium Kino als Zusammenspiel aus Hardware (Säle) und Software (Filme) noch funktioniert oder zu einem Anachronismus mit Stil avanciert - wie die Schallplatte für Vinylliebhaber.


Ein Beitrag von
Andreas Schnadwinkel

Artikel vom 31.12.2005