30.12.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Je weniger Talent sie haben, um so mehr Wirbel machen sie. Pierre ist das gleich, das ist sein Terrain, aber ich, Camille, ich... Wie mich das anödet. Komm, setz dich zu mir, erzähl mir was.«
»Ich kann nicht erzählen. Ich zeige dir lieber meine Hefte.«
Mathilde blätterte, und sie kommentierte die Seiten.

Und während sie ihre kleine Welt auf diese Weise präsentierte, merkte sie erst, wie sehr sie an den anderen hing.
Philibert, Franck und Paulette waren mittlerweile die wichtigsten Menschen in ihrem Leben, und sie war gerade im Begriff, sich dessen bewußt zu werden, zwischen zwei Perserkissen aus dem 18. Jahrhundert. Sie war ganz aufgewühlt.

Zwischen dem ersten Heft und der letzten Zeichnung, die sie vorhin angefertigt hatte - Paulette freudestrahlend vor dem Eiffelturm -, waren nur wenige Monate vergangen, und doch war sie nicht mehr dieselbe. Es war nicht mehr dieselbe Person, die den Stift führte. Sie hatte sich gehäutet, sie hatte die Granitblöcke, die sie seit Jahren am Vorankommen hinderten, verrückt und gesprengt.
Heute abend warteten Menschen auf ihre Rückkehr. Menschen, die sich nicht darum scherten, was sie wert war. Die sie aus anderen Gründen mochten. Um ihretwillen vielleicht.
Um meinetwillen?
Um deinetwillen.

»Und?« fragte Mathilde ungeduldig, »du sagst gar nichts mehr. Wer ist das hier?«
»Johanna, Paulettes Friseuse.«
»Und das?«
»Johannas Stiefeletten. RockÕnÕRoll, oder? Wie kann eine Frau, die den ganzen Tag im Stehen arbeitet, so was tragen? Selbstverleugnung im Dienste der Eleganz, vermute ich.«
Mathilde lachte. Die Schühchen waren wirklich greulich.
»Und der hier, der kommt häufig vor, oder?«
»Das ist Franck, der Koch, von dem ich dir vorhin erzählt habe.«
»Der sieht gut aus.«
»Findest du?«
»Ja. Man könnte meinen, der junge Farnese, wie ihn Tizian gemalt hat, nur zehn Jahre älter.«
Camille verdrehte die Augen:
»Blödsinn.«
»Aber sicher! Ich schwörÕs dir!«
Sie war aufgestanden und kam mit einem Buch zurück:
»Hier. Sieh doch. Der gleiche düstere Blick, die gleichen bebenden Nasenflügel, das gleiche vorspringende Kinn, die gleichen leicht abstehenden Ohren. Das gleiche Feuer, das in ihm lodert.«
»Blödsinn«, wiederholte sie und schielte auf das Porträt, »meiner hat Pickel.«
»Ach... Du Spielverderberin!«

»Ist das alles?« fragte Mathilde betrübt.
»Eh, ja.«
»Das ist gut. Das ist sehr gut. Das ist... das ist herrlich.«
»Hör auf.«
»Widersprich mir nicht, junge Frau, ich kann zwar nicht malen, aber ich kann sehen. In einem Alter, in dem andere Kinder ins Kasperletheater gehen, hat mich mein Vater überall mit hingenommen, mich auf die Schultern gesetzt, damit ich auf Augenhöhe bin, also widersprich mir nicht. Läßt du sie mir da?«
»...«
»Für Pierre.«
»Okay... Aber bitte paß darauf auf! Diese kleinen Zeichnungen sind meine Fieberkurven.«
»Das habe ich schon verstanden.«

»Willst du nicht auf ihn warten?«
»Nein, ich muß los.«
»Er wird enttäuscht sein.«
»Es wäre nicht das erste Mal«, antwortete Camille schicksalsergeben.
»Du hast mir gar nichts von deiner Mutter erzählt.«
»Stimmt«, wunderte sie sich, »ein gutes Zeichen, oder?«
Mathilde begleitete sie zur Tür und gab ihr Küßchen auf die Wangen:
»Das Beste. Und vergiß nicht, mal wieder vorbeizuschauen. Mit eurem Rollstuhl Cabriolet ist es lediglich eine Frage von wenigen Metrostationen...«
»Versprochen.«
»Und weiter so. Locker bleiben. Tu dir was Gutes. Pierre würde dir natürlich das Gegenteil sagen, aber auf ihn darfst du auf keinen Fall hören. Hör nicht mehr auf sie, weder auf ihn, noch auf irgendjemand anders. Ach, übrigens?«
»Ja?«
»Brauchst du Geld?«
Camille hätte nein sagen sollen. Seit siebenundzwanzig Jahren sagte sie nein. Nein, kein Problem. Nein, danke. Nein, ich brauche nichts. Nein, ich will euch nichts schuldig sein. Nein, nein, laßt mich in Ruhe.
»Ja.«
Ja. Ja, vielleicht glaube ich daran. Ja, ich werde nicht mehr den Lakaien machen, weder für die Ritals noch für die Bredart noch für irgendeinen anderen dieser Idioten. Ja, ich würde gerne zum ersten Mal in meinem Leben in Ruhe arbeiten. Ja, ich habe keine Lust, mich jedesmal zu verkrampfen, wenn Franck mir seine drei Scheine hinhält. Ja, ich habe mich verändert. Ja, ich brauche euch. Ja.
»Prima. Und kauf dir was Schönes davon. Ehrlich gesagt... Diese Jeansjacke hattest du vor zehn Jahren auch schon.«
Das stimmte.

15. Kapitel
Sie ging zu Fuß zurück und besah sich die Schaufensterauslagen der Antiquitätenhändler. Sie war gerade bei den Schönen Künsten (das Schicksal, so ein Schelm...), als ihr Handy klingelte. Sie klappte es wieder zu, als sie sah, daß es Pierre war.
Sie lief schneller. Ihr Herz verhedderte sich.

Zweites Klingeln. Mathilde diesmal. Sie ging auch jetzt nicht dran.

Sie machte kehrt und überquerte die Seine. Diese Kleine hatte Sinn für Romantik, und ob man nun vor Freude in die Luft oder ins Wasser sprang, der Pont des Arts in Paris war dafür immer noch am besten geeignet. Sie lehnte sich an die Brüstung und wählte die drei Ziffern ihrer Mailbox.
Sie haben zwei Nachrichten in Ihrer Mailbox, heute, dreiundzwanzig Uh... Es war noch Zeit genug, es aus Versehen fallen zu lassen. Plumps! Oh... Zu dumm.
»Camille, ruf mich sofort zurück, oder ich schleife dich an den Haaren herbei!« brüllte er. »Sofort! Hörst du?«

Heute, dreiundzwanzig Uhr achtunddreißig: »Hier ist Mathilde. Ruf ihn nicht zurück. Komm nicht. Ich will nicht, daß du das siehst. Dein Händler heult wie ein Schloßhund. Kein schöner Anblick, kann ich dir sagen. Doch, er ist schön. Er ist sogar sehr schön. Danke, Camille, danke. Hörst du, was er sagt? Moment, ich geb ihm den Hörer, sonst reißt er mir das Ohr ab. Ich stell dich im September aus, Fauque, und sag nicht nein, die Einladungen sind schon rausgeg...« Die Nachricht brach ab.

Sie stellte ihr Handy aus, drehte sich eine Zigarette und rauchte sie zwischen Louvre, Académie Française, Notre-Dame und der Place de la Concorde.
Eine passende Kulisse für den Vorhang.

Anschließend zurrte sie den Schultergurt ihres Quersacks fest und nahm die Beine in die Hand, um das Dessert nicht zu verpassen.

16. Kapitel
In der Küche roch es ein wenig nach Bratfett, aber das Geschirr war schon wieder verstaut.
Kein Laut, alle Lichter gelöscht, nicht mal ein Lichtschein unter den Zimmertüren. Pff... Wo sie einmal bereit gewesen wäre, sich den Bauch vollzuschlagen.
Sie klopfte bei Franck.
Er hörte Musik.

Sie baute sich am Fußende auf und stemmte die Fäuste in die Seiten:
»Und?!« fragte sie entrüstet.
»Wir haben dir ein paar aufgehoben. Ich flambier sie dir morgen.«
»Und?!« wiederholte sie. »Willst du mich nicht vernaschen?«
»Ah! Ah! Sehr witzig.«
Sie fing an, sich auszuziehen.
»Also, mein Lieber. So leicht kommst du mir nicht davon! Versprochen ist versprochen, Orgasmus gefälligst!«
Er hatte sich aufgesetzt, um die Lampe anzumachen, während sie ihre Latschen in die Ecke pfefferte.
»Was machst du denn da? Was soll das?«
»Eh... Ich ziehe mich aus!«
»Oh nein.«
»Was?«
»Nicht so. Moment. Von diesem Augenblick träume ich seit Stunden.«
»Mach das Licht aus.«
»Warum?«
»Ich hab Angst, daß du keine Lust mehr auf mich hast, wenn du mich siehst.«
»Verflucht, Camille! Hör auf! Hör auf!« brüllte er.
Schmollmund.
»Willst du nicht mehr?«
»...«
»Mach das Licht aus.«
»Nein!«
»Doch!«
»Ich will nicht, daß das so zwischen uns abläuft.«
»Wie soll es dann ablaufen? Willst du mit mir im Bois de Boulogne Boot fahren?«
»Pardon?«
»Boot fahren und Gedichte aufsagen, während ich die Hand im Wasser baumeln lasse.«
»Setz dich hier neben mich.«
»Mach das Licht aus.«
»Okay.«
»Mach die Musik aus.«
»Ist das alles?«
»Ja.«

»Bist duÕs?« fragte er verschüchtert.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.12.2005