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Der Bus, den wir so sehr liebten

Die letzte Linie der roten Londoner Doppeldecker wird eingestellt

Von Thomas Burmeister
London (dpa). Big Ben rührt sich nicht. Auch der Bobby vor Downing Sreet 10 wird sich nichts anmerken lassen. Die Horse Guards Ihrer Majestät zucken sowieso nie mit der Wimper.

Und selbst Lord Nelson wird nicht von seiner Säule am Trafalgar Square herabsteigen, wenn einer morgen auf Linie 159 ein allerletztes Mal an ihnen vorbeituckert. Dabei verschwindet eines von ihnen, eines der bekanntesten Wahrzeichen Londons: der klassische Doppeldecker-Bus.
Nur noch auf der »159« rollten zuletzt die roten Routemaster. Vom Wochenende an werden auch auf dieser Strecke moderne Fahrzeuge aus Deutschland dominieren: Der Mercedes-Benz Citaro gehört laut Firmenwerbung zur »erfolgreichsten Niederflurlinienbus-Familie in Europa«.
Das kann die Londoner nicht über den »Tod einer Ikone« hinwegtrösten, wie britische Zeitungen das Dienstende des berühmtesten Doppeldeckers der Welt nannten. Millionenfach haben Touristen ihn mit nach Hause genommen. Als Modell in diversen Größen oder als Abbild auf T-Shirts, Teepackungen, Socken oder Eierbechern. Vor gut einem halben Jahrhundert wurde der erste Routemaster montiert. Er blieb der letzte Bus, der noch eigens für London, von Londonern und in London gebaut wurde. »Er war das einzige Fahrzeug des öffentlichen Nahverkehrs, das wir jemals wirklich geliebt haben«, sagt Travis Elborough, der Autor des Bestsellers »The Bus We Loved« (Der Bus, den wir liebten).
Wer einen alten Londoner bittet, das »Lebensgefühl Routemaster« zu beschreiben, kann Antworten wie diese bekommen: »Es war wunderbar, hinten auf der offenen Plattform zu stehen, den Wind im Gesicht. Und diese Freiheit, aus- oder einsteigen zu können, wo er gerade hielt.«
Mitschuld am »Verbot« des alten Doppeldeckers tragen für Londoner die EU-Bürokraten. Der Bus-Klassiker war mit seinem einzigen Ein- und Ausgang über Treppen an der Heckplattform nicht Rollstuhl geeignet. Mit diesem Verstoß gegen die Behinderten-Richtlinie der EU begründete Bürgermeister Ken Livingstone die rote Karte für den Routemaster, dessen Rettung er einst im Wahlkampf noch versprochen hatte. Die EU-Vorschrift muss übrigens erst bis 2017 umgesetzt sein...
Boulevardblätter vermuteten daher sofort eine Verschwörung mit Brüsseler Eurokraten und deutschen Busherstellern, die bislang etwa 400 der ebenso effizienten wie gesichtslosen Citaros nach London verkauften. Seriösere Zeitungen wiesen darauf hin, dass es wohl eher um die Einsparungen von Lohnkosten gegangen sei. Denn mit dem rollenden Klassiker geht eine ganze Berufsgruppe: die des Londoner Bus-Schaffners.
Die rollenden Riesen waren so konstruiert, dass der Chauffeur keinen Zugang zum Passagierraum hatte. Ohne Schaffner ging es nicht. Schwarzfahrer hassten das. Artig zahlende Bürger hingegen schätzten die »Busbegleiter« nicht nur, weil sie Wechselgeld bereit hielten, sondern auch als Beschützer vor Rowdys und Dieben. Deshalb kommentierte der konservative »Daily Telegraph«, dass sich Rollstuhlfahrer zwar zu Recht über den Routemaster ärgerten. Viele andere Behinderte aber würden ihn vermissen. Schließlich seien die Schaffner für blinde und auch für geistig Behinderte eine Hilfe gewesen.

Artikel vom 08.12.2005