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SOS-Mutter aus Leidenschaft
Margarete Gehring aus Deutschlands ältestem SOS-Kinderdorf ist »Frau des Jahres« - stellvertretend für 5500 Mütter
Das Küsschen von Michael Gorbatschow fand Margarete Gehring ganz nett und hat gut getan. Noch viel schöner als die Ehrung durch den Friedensnobelpreisträger war für die 46-jährige SOS-Kinderdorfmutter anderes. Als ihr schwierigster Zögling sie einem Lehrer vorstellte: »Das ist meine Mutter.« »Er war anfangs nicht gerne hier, wir haben sehr miteinander gekämpft«, erzählt die Frau vom Ammersee und lächelt, »als er dann sagte, das ist meine Mutter - das war wirklich wunderschön.«
Stellvertretend für 5500 Kinderdorfmütter in 438 SOS-Kinderdörfern weltweit nahm Margarete Gehring am 30. November den Titel »Frau des Jahres« in Leipzig entgegen. Ein tolles Erlebnis und ein schönes Dankeschön für sie.
Mit dem gläsernen »Woman of the Year-Award« in der Hand gab sich die gestandene Familienmutter wie selbstverständlich neben den weiblichen Show- und Politgrößen. So sehr das Rampenlicht Catherine Deneuve, Donatella Versace, Sabine Christiansen und Benazir Bhutto noch erhöhte, erntete die Kinderdorfmutter aus Leidenschaft deutlich mehr Beifall. Schon am Tag danach machte sie um sich selbst kein Aufhebens mehr: »Wir haben einen Preis bekommen und mit ÝwirÜ sind alle SOS-Kinderdorfmütter gemeint«.
Seit elf Jahren lebt und arbeitet Margarete Gehring im SOS-Kinderdorf Ammersee, dem ältesten Kinderdorf Deutschlands - vor 50 Jahren von Hermann Gmeiner gegründet.
Für Bundespräsident Horst Köhler und Ehefrau Eva Köhler war das Jubiläum ein schöner Anlass im Berliner SOS-Kinderdorf vorbeizuschauen. »Locker wie in allen Kinderdörfern«, erinnert sich eine Teilnehmerin, »gingen unsere Kinder auf den hohen Gast zu, schnell saßen wir zusammen und es wurde ein munteres Kaffeetrinken«.
Margarete Gehring betreut derzeit am Ammersee fünf Kinder zwischen sieben und 17 Jahren. Alle haben ihre Geschichte mitgebracht, oft haben sie Schweres durchgemacht.
Dennoch klappt das Zusammenleben wie in einer »richtigen« Familie. Denn: Viele erleben erstmals Wärme und Geborgenheit. Mehr als andere Kinder wissen sie das Zusammenleben in einer funktionierenden Familie zu schätzen.
Der Arbeitstag von Mutter Gehring beginnt frühmorgens und endet um acht Uhr abends. In nichts unterscheidet er sich von anderen Familien, außer dass hier durchweg mehr Kinder zusammen sind. Sie macht die Kinder fertig für die Schule, belegt Pausenbrote, ist Freundin und Erzieherin, Chauffeurin, Köchin und Spielkameradin zugleich. Interessant am Rande: SOS-Kinderdorf-»Väter« werden nicht wirklich gebraucht. Unterstützt wird Margarete Gehring stattdessen von einem Sozialpädagogen, einem Erzieher, einer Praktikantin und einer Zugehfrau, die sich um die Rasselbande kümmern, wenn Frau Gering ihren freien Tag oder Urlaub hat.
Zeit für sich hat sie, wenn die Kleinen im Bett sind. »Es sei denn, ein Kind ist krank oder träumt schlecht, dann kann der Tag auch manchmal 24 Stunden haben«, erzählt die Vollzeit-Mutter mit dem großen Herz.
Ihre persönliche Entscheidung für die schönste Berufung inklusive Vollstress, die sie sich vorstellen kann, hat eine Vorgeschichte. Früher arbeitete sie bei einer Krankenversicherung - 16 Jahre lang. »Irgendwann habe ich mir überlegt, ob ich den trockenen Bürojob bis zur Rente durchziehen will.« Es sollte nur ein Reinschnuppern sein, als sie ein Praktikum machte. Aber schnell wuchs das Gefühl, eine neue Aufgabe gefunden zu haben: »Ich komme aus einer Großfamilie und kann gut mit Kindern umgehen. Allerdings hatte ich nie die Gelegenheit, selbst eine Familie zu gründen.«
13 Kinder hat die selbstbewusste Bayerin in den vergangenen Jahren schon groß gezogen. Alle »ihre« Kinder waren Zöglinge, die nicht mehr in ihren eigenen Familien aufwachsen konnten.
Das war 1956 anders. Zur Eröffnung des SOS-Kinderdorfs Ammersee waren fast alle 120 Schützlinge auch Waisenkinder. Heute gibt es in den neun Familien am Ammersee gerade einmal zwei Kinder, die keine leiblichen Eltern mehr haben.
»Die meisten haben Schlimmes durchgemacht oder ihre Eltern konnten sich nicht mehr um sie kümmern. Sie sind verstört, wütend und verzweifelt«, erzählt sie. Nicht einfach ein Job: »Das Leid der Kinder perlt ja nicht spurlos von uns ab.«
Dennoch hat Margarete Gehring bislang für jedes Problem eine Lösung gefunden. Die größten Dramen aber bewahrt sie im Herzen. Man erahnt ihre Leistung, wenn die »Frau des Jahres« zu verstehen gibt, dass nicht alles aus dem Familienleben ins Rampenlicht gezerrt werden soll. Lieber erinnert sie an jenen Tag, als ihr ältester Schützling sie »Mutter« nannte.
Aber das liegt auch schon wieder einige Zeit zurück und muss in seiner wohltuenden Wirkung noch länger vorhalten.
Reinhard Brockmann

Artikel vom 17.12.2005