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Gefangen in sich selbst

Mozarts »Entführung« am Theater Bielefeld

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Nein, Sie sind nicht aus versehen ins Kino gegangen, sondern in die Oper. Gegeben wird Mozarts Singspiel »Die Entführung aus dem Serail« und mit der sich hinter dem Orchestergraben auftürmenden weißen Wand hat es so seine Bewandtnis.
Knallharte Revierkämpfe: Belmonte und Pedrillo überfallen Osmin. Foto: Theater Bielefeld
Roman Hovenbitzer nutzt sie in seiner aktuellen Inszenierung am Theater Bielefeld mal als Projektionsfläche, mal als Grenzlinie zwischen zwei unvereinbaren Welten. Manchmal fährt das fahle Ungetüm wie ein Vorhang auseinander und zieht den Zuschauer hinein in die Verwirrungen, Zweifel und Verletzungen, die allen Beteiligten widerfahren, weil sie unfrei sind, weil sie das Fremde ablehnen und es ihnen unmöglich ist, angestammten Denkweisen zu entsagen.
Es sind die Einschränkungen, die jeder in sich selbst trägt und die mitunter zu tragischen Biografien führen. Hovenbitzer und Anna Siegrot (Bühne und Kostüme) haben die Grenzen in ihrer Inszenierung farblos markiert, die Charaktere dafür um so schillernder gezeichnet. In der von Orientalismen entstaubten Guckkastenbühne nimmt die Regie das subtile Geflecht der beiden Dreiecksbeziehungen unter die Lupe, überhöht die Seelennot in Form von Videoeinspielungen und hält das Zaudern in Standbildern fest.
Ja, diese »Entführung« bedient sich der modernen Medien wie auch der Bassa Selim (Thomas Wolff leuchtet ihn vielschichtig aus) ganz westlich-modern seine Haremsdamen videoüberwacht am Computer arbeiten lässt. Denn der Patriarch ist ebenso wie sein Leibwächter Osmin (Jacek Janiszewski mit warm-voluminösem und facettenreichem Bass) gepflegt und gebildet. Dagegen nehmen sich Belmonte (Juhan Tralla kraftvoller Tenorstrahl) und Pedrillo (Simeon Esper in bester Buffo-Laune) eher wie tumbe Tölpel aus. Kein Wunder, wenn sich die sensible Konstanze (Melanie Kreuter mit überwältigender Bühnenpräsenz und brillanter Koloraturkunst) zu dem Feingeist Selim hingezogen fühlt und es dem kessen Luder Blonde (Victoria Granlund gesanglich wie darstellerisch verführerisch) ein tierisches Vergnügen bereitet, den tadellosen Osmin zu bezirzen
Am Ende fehlt beiden die Entschlossenheit, sich aus alten Fesseln zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das holt man sich allenfalls noch bei einer Tüte Chips als Spielfilm ins heimische Wohnzimmer. Selbst schuld! Slapstick, originelle Einfälle und locker-flockige Dialoge verhindern, dass der Abend als Trauerspiel endet und lassen die Stimmung geschickt zwischen Tragik und Komik changieren.
In diesem Sinne steht mit Kevin John Edusei ein Kapellmeister am Pult der Bielefelder Philharmoniker, der kein Tschinderrassa zur Unterhaltung der Gelangweilten formt, sondern furiose Gefühle und leise leidvolle Abgründe gefühlvoll ausleuchtet.

Artikel vom 05.12.2005