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Silvana Koch-Mehrin legte Plädoyer für die Familie ab.

Das Wort »Rabenmütter« kennt man allein in Deutschland

Paderborner Podium diskutiert im Nixdorf-Forum über »Zukunft der Familie«

Von Reinhard Brockmann
Paderborn (WB). Der Kinderwunsch der Deutschen ist ungebrochen, die Realität sieht anders aus. 2,2 Kinder pro Familie, das ist nach Umfragen die Idealgröße 2005 fast genauso wie 1971. Weshalb aber die »Fruchtbarkeitsrate« genannte Kennzahl heute nur noch 1,3 beträgt, dem spürte gestern das Paderborner Podium im Heinz-Nixdorf-Museumsforum nach.

»Und wie klappt es mit der Kinderkrippe?« fragte ein belgischer Kinderarzt ganz beiläufig beim Impfen eines fünf Monate alten Säuglings. Silvana Koch-Mehrin, die deutsche Mutter, verstand erst nicht recht. Aber gestern unterstrich die FDP-Europaabgeordnete ihr Plädoyer für mehr Möglichkeiten junger Familien mit diesem Schlüsselerlebnis. Vier Betreuungseinrichtungen in ihrem Brüsseler Wohnviertel, eine Kinderfrau sowie Großeltern in Irland und Deutschland machten zwei, später unter Umständen sogar mehr Kinder möglich, sagte sie. Vor allem aber stimme in anderen europäischen Ländern das Klima und das Wort »Rabenmutter« sei unbekannt.
Nur in Deutschland höre sie die Kontrollfrage »Und wer kümmert sich um die Kinder?« Sie streitet für Familien- statt Ehegattensplittung. Die Zahl der tatsächlich vorhandenen Kinder spielt dabei eine wesentliche Rolle. Neben jungen Ehemännern seien auch die »Töchter-Väter« wie Hermann-Otto Solms (drei große Mädchen) für diese Forderung zugänglich.
Junge Eltern wünschen sechs Wochen nach der Geburt fast ausnahmslos ein zweites Kind. Selbst unmittelbar nach dem zweiten Kind gibt es zu 30 Prozent den Wunsch nach einem dritten und vierten Kind. Warum daraus selten Wirklichkeit wird, hat Professor Wassilios Fthenakis untersucht. Einen »erfahrungsgeleiteten Anpassungsprozess« an die eben ungünstigen Bedingungen für junge Familien hat er dabei nachweisen können.
Das bestätigt auch Manfred Güllner, dessen Forsa-Institut die Sorge um die Sicherheit des Arbeitsplatzes als eine »erschreckende Größe« ermittelte. Bald jeder Zweite schreckt aus diesem Grund vor dem »Vollzug des Wunsches« zurück.
Das 400-köpfige Publikum im Nixdorf-Museumsforum war von der Formulierung amüsiert und von ihrem Inhalt betroffen. Auffällig auch, dass Betreuung und staatliche Hilfen von stets einem Drittel der Befragten betont wurden, familiäre und gesellschaftsklimatische Argumente aber sehr viel schwerer wogen.
Den Barrieren in der Gesellschaft spürt auch Trendforscher Professor Norbert Bolz nach. Für ihn folgen auf die abtretenden 68er die Baby-Boomer, die fest entschlossen seien, möglichst alt zu werden. Das neue Methusalem-Komplott und die alte feministische Grundhaltung, die anfangs den Gebärstreik wollte, treiben für ihn die eigenartigsten Blüten - bis zur Definition des neuen Verhältnisses von Mann und Frau allein über den Faktor Arbeit.
Schlimmster Auswuchs: Eine Mutter, die die eigenen Nachkommen ins Heim steckt, sich aber für Kinder in der Dritten Welt aufreibt.
In eine viele Probleme vorhaltende Zukunft blickte der evangelische Landesbischof von Thüringen, Christoph Kähler. Gerade im Osten, nach dem Zusammenbruch der »politischen Religion«, fehlten Familien als »Gegenentwurf des Staates« (so auch Norbert Bolz) vollends. 70 Prozent aller Kinder wachsen außerhalb der »normalen« Familiensituaton auf.
Wenn es denn wenigstens wie bei Martin Luther »das Haus« wäre - durchaus leise Verzweiflung war bei dem Vize im Rat der EKD spürbar. Aber Hofgemeinschaften alter Tage mit vielen Generationen unter einem Dach sind heute die absolute Ausnahme, wo Alleinerziehende ziemlich allein dastehen.
Kähler präsentierte zehn Thesen, die fast alle den Satz variierten »Familien sind für sich und alle anderen ein Wert an sich«. Und obwohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen immer schwieriger werden, sieht Kähler nur eine Lösung: Die Rahmenbedingungen für Familien müssen besser werden, oder, wie Professor Bolz bepflichtete: »Von der gelassenen Wahlfreiheit für junge Familien sind wir noch unendlich weit entfernt.«
Siehe auch Leitartikel

Artikel vom 02.12.2005