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der Kanzler

Germanisten analysieren ihre Reden

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). »Wir werden eine Regierung der Taten sein«, kündigte Angela Merkel am Mittwoch an. Bei 250 Reden im Jahr wird sie selbst zur Kanzlerin der Worte werden.

Die bedeutendste Rede hat Angela Merkel bereits hinter sich. Die Regierungserklärung nach der Wahl sei die »wichtigste Kanzlerinszenierung« und ein »hochkomplexes Gesamtkunstwerk«, schreibt Johannes Volmert im neuen Duden »Sprache und Politik: Deutsch im demokratischen Staat«. Volmert forscht an der Universität Magdeburg zu politischer Sprache und hat Aufbau sowie Bedeutung von Regierungserklärungen untersucht.
Nur Konrad Adenauer habe seine Antrittsrede vom 20. September 1949 in großen Teilen selbst geschrieben, weiß Volmert. Nach ihm hätten Ghostwriter, Kabinett und Koalitionspartner in den Text hineinregiert. Der Aufbau einer Regierungserklärung sei immer gleich: Nach dem Dank an die Wähler für das »geschenkte Vertrauen« werde der Wählerauftrag gedeutet, dem Vorgänger im Kanzleramt gedankt und dann über das schwere Erbe geklagt, das die Vorgängerregierung hinterlassen habe. Die neuen Kanzler bemühten dann gern Wörter wie »Scherbenhaufen«, um ihr Programm als dringlich und unverzichtbar darzustellen. Es folgten Ausführungen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik und zur Rolle Deutschlands in der Welt. Am Ende der Regierungserklärung, analysiert Volmert, hebe der Kanzler seine Persönlichkeit und Richtlinienkompetenz hervor. Gerhard Schröder habe sich als »Modernisierer« hingestellt.
Am Mittwoch hat Merkel im Bundestag erst in zweiter Linie zu den Abgeordneten gesprochen. Politikerreden seien »mehrfachadressiert« und zielten über den Umweg der Massenmedien auf die Bürger, betont Armin Burkhardt in dem Duden-Band. Beim Bundestag handele es sich um ein »Schaufensterparlament«, betont der Germanist an der Uni Magdeburg. Habe vor der Wiedervereinigung im Bundestag ein gelehrt-ironischer Sprachduktus geherrscht, finde sich heute immer mehr Alltagssprache in den Reden. Geblieben seien die »politischen Hochwertwörter«, erläutert Josef Klein, Germanist an der Uni Koblenz-Landau mit dem Schwerpunkt Politischer Sprachgebrauch. Wörter und Wortpaare wie Grundrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz von Ehe und Familie, Gleichberechtigung von Mann und Frau oder Sozial- und Rechtsstaat bildeten das Skelett jeder Rede und verliehen ihr damit Bedeutsamkeit. Politische Kämpfe seien vor allem »semantische Kämpfe« um die Auslegung der zentralen Begriffe der Demokratie.
Sprache und Politik: Deutsch im demokratischen Staat, Dudenverlag Mannheim, 25 Euro.

Artikel vom 02.12.2005