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»Kinderarmut in Deutschland ist ein enger Begleiter des Wohlstandes.«

Leitartikel
Zukunft der Familie

Kinderwunsch
und
Wirklichkeit


Von Reinhard Brockmann
Wann immer in jüngster Zeit über »Die Zukunft der Familie« diskutiert wurde, ging es über kurz oder lang ums Geld und sonst nichts. Das gestrige »Paderborner Podium« war da erfrischend anders. Natürlich spielen Betreuungseinrichtungen, Freibeträge und Familiengeld eine wichtige Rolle, aber mitnichten die alleinige. Denn Kinderarmut in Deutschland ist ein enger Begleiter des Wohlstandes.
Der Staat tut, was er kann, selbst Langzeitarbeitslose haben ein Auskommen. Anders steht es da schon um die wirtschaftliche Sicherheit jener, die noch in Lohn und Brot sind, und um die Zuversicht der Menschen.
Tatsächlich belastet Deutschlands Kernproblem, der Mangel an ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen, auch die Bereitschaft zur Verwirklichung des - siehe da - seit eh und je ungebrochenen Kinderwunsches. Wer Arbeitsplatzabbau um sich herum erlebt, der stellt Nachwuchs, Hausbau und andere große Lebensziele zurück.
Akademikerinnen sind die Frauengruppe mit der geringsten Kinderzahl. Zunächst scheint das ein Randproblem zu sein. Aber tatsächlich macht das Beispiel eine dramatische Fehlentwicklung deutlich. Trotz aller Bekenntnisse zur Familie, zur Kinderfreundlichkeit und zur Gesamtverantwortung klappt es selbst in intellektuellen und bestens verdienenden Kreisen nicht, Arbeit und Familie, Jung und Alt, Kinder und eigene Freizeitansprüche in Ausgleich zu bringen. Will sagen: Selbst bei Vollbeschäftigung wären die »Erfolgreichsten« die Erfolglosesten in Sachen Nachwuchs.
»Wenn der Bauch wächst, schrumpft doch nicht das Gehirn«: Mit diesem plakativen, vielleicht auch etwas überdrehten Ausruf hat die Mutter und Europapolitikerin Silvana Koch-Mehrin gestern in Paderborn berechtigtem Ärger Luft gemacht. Nur in Deutschland, so ihre ganz persönliche Erfahrung, müssen Frauen immer noch erklären, warum sie beides wollen: Kind und Karriere. Die sehr viel höheren Kinderzahlen in Frankreich und Belgien sind den Blick über die Grenzen wert.
Übrigens, die vielgeschmähten 68er sind nicht allein Schuld. Sie haben zwar die Vorlage geliefert. Die nachfolgende Baby-Boomer-Generation zeigt sich genauso wenig »reproduktiv«. Wie die Frankfurter Schule in den 60ern das Geld zum zentralen Faktor im Herr-Knecht-Verhältnis erklärt hat, so wird auch nach Rot-Grün die Gleichheit von Mann und Frau am Einkommen gemessen.
Alle ideologischen Wechselbäder ändern nichts daran, dass es bis heute unmöglich ist, die traditionelle Mutterrolle als gleichberechtigt neben der »Powerfrau« zu sehen. Und das liegt nicht an Erfolgsfrauen wie Koch-Mehrin (2 Kinder) oder Angela Merkel (keine eigenen Kinder). Das liegt an der sie umgebenden Gesellschaft. Ob Großfamilie oder alleinerziehend, ein Urteil über die gewählte Lebensform steht uns nicht zu. Aber beide Formen verdienen unsere uneingeschränkte Anerkennung.
Und: Vorfahrtsschilder stellt nicht nur die Politik auf.

Artikel vom 02.12.2005