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Als sie aufstand, sah sie auf dem Tisch den Teller, den Franck für sie zubereitet hatte, mit einer kleinen Nachricht: »Filetspitze von gestern mit Backpflaumen und frischen Tagliatelle. Mikrowelle drei Minuten.«
Fehlerlos, alle Achtung.
Sie aß im Stehen und fühlte sich sogleich besser.

Schweigend verdiente sie ihren Lebensunterhalt.
Wrang den Scheuerlappen aus, leerte Aschenbecher und verschnürte Müllbeutel.
Kehrte zu Fuß nach Hause zurück.
Schlug die Hände gegeneinander, um sie aufzuwärmen.
Nahm den Kopf wieder hoch.
Dachte nach.
Und je mehr sie nachdachte, desto schneller lief sie.
Rannte fast.
Es war zwei Uhr morgens, als sie Philibert schüttelte:
»Ich muß mit dir reden.«


15. Kapitel

J
etzt?«
»Ja.«
»A... aber, wie spät ist es denn?«
»Das ist egal, hör mir zu!«
»Reich mir bitte meine Brille.«
»Du brauchst keine Brille, es ist dunkel.«
»Camille... Bitte.«

»Ah, danke. Mit meinen Gläsern höre ich besser. Na, Soldat? Was verschafft mir die Ehre dieses Hinterhalts?«
Camille atmete tief durch und packte aus. Sie hörte eine ganze Weile nicht mehr auf zu reden.

»Rapport beendet, Herr Oberst.«
Philibert hatte es die Sprache verschlagen.
»Sagst du nichts?«
»Gute Güte, für eine Offensive nicht schlecht.«
»Willst du nicht?«
»Warte, laß mich nachdenken.«
»Einen Kaffee?«
»Gute Idee. Mach dir einen Kaffee, bis dahin habe ich mich ein bißchen gesammelt.«
»Und für dich?«
Er schloß die Augen und machte ihr Zeichen, das Feld zu räumen.

»Und?«
»Ich... Ich sage es dir ganz offen: Ich halte es nicht für eine gute Idee.«
»Nein?« fragte Camille und biß sich auf die Lippen.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Die Verantwortung ist zu groß.«
»Laß dir was anderes einfallen. Diese Antwort laß ich nicht gelten. Sie ist nicht haltbar. Wir ersticken an Leuten, die keine Verantwortung übernehmen wollen. Wir ersticken daran, Philibert. Du hast dir diese Frage nicht gestellt, als du gekommen bist, um mich da oben rauszuholen, wo ich seit drei Tagen nichts mehr gegessen hatte.«
»Doch. Stell dir vor, ich habe mir die Frage gestellt.«
»Und? Bereust du es?«
»Nein. Aber das kannst du nicht vergleichen. Der Fall hier liegt anders.«
»Nein! Es ist genau dasselbe!«
Stille.
»Du weißt genau, daß das hier nicht mir gehört. Wir wohnen hier auf Abruf. Ich kann morgen früh ein Einschreiben bekommen mit der Aufforderung, die Wohnung nächste Woche zu räumen.«
»Pff... Du weißt doch, wie diese Erbschaftsgeschichten ablaufen. Kann gut sein, daß du in zehn Jahren noch hier bist.«
»Zehn Jahre oder einen Monat. Wer weiß? Wenn genug Geld im Spiel ist, finden auch die Prozeßwütigsten zu einer Einigung, weißt du?«
»Philou.«
»Sieh mich nicht so an. Du verlangst zuviel von mir.«
»Nein, ich verlange nicht zuviel von dir. Ich verlange nur, daß du mir vertraust.«
»Camille.«
»Ich... Ich habe euch nie davon erzählt, aber ich... Ich hatte wirklich ein Scheißleben, bis ich euch kennengelernt habe. Wobei, verglichen mit Francks Kindheit ist es vielleicht nicht so wild, aber trotzdem, ich habe das Gefühl, daß es aufs gleiche rauskommt. Daß es vielleicht tückischer war. Wie wenn man am Tropf hängt. Und dann... Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe. Ich habe mich vielleicht auch blöd angestellt, aber ich...«
»Aber du...«
»Ich... Ich habe alle Leute verloren, die ich unterwegs geliebt habe, und...«
»Und?«
»Und als ich dir neulich sagte, daß ich nur dich auf der Welt habe, war es nicht... Ach, und außerdem scheißegal! Weißt du, gestern war mein Geburtstag, ich bin siebenundzwanzig geworden, und der einzige Mensch, der sich gemeldet hat, war meine Mutter, leider. Und weißt du, was sie mir geschenkt hat? Ein Buch zum Abnehmen. Witzig, oder? Kann man noch geistreicher sein, frag ich dich. Es tut mir leid, daß ich dich damit belästige, aber du mußt mir helfen, Philibert. Einmal noch. Danach bitte ich dich nie wieder um etwas, versprochen.«
»Gestern war dein Geburtstag?« jammerte er, »warum hast du uns nichts davon gesagt?«
»Mein Geburtstag tut hier nichts zur Sache! Ich habe dir das nur erzählt, um auf die Tränendrüse zu drücken, aber in Wahrheit spielt es überhaupt keine Rolle.«
»Aber ja doch! Ich hätte dir gern ein Geschenk überreicht.«
»Tja, nur zu: Überreich es mir jetzt.«
»Wenn ich einschlage, läßt du mich dann wieder einschlafen?«
»Ja.«
»Dann also, einverstanden.«

Natürlich schlief er nicht wieder ein.


16. Kapitel

Am nächsten Morgen um sieben war sie zum Kampf gerüstet. Sie war zur Bäckerei gegangen und hatte für ihren Lieblingssoldaten ein kleines Baguette geholt.

Als dieser in die Küche kam, kauerte sie unter der Spüle.
»Ui...« stöhnte er, »größere Manöver, jetzt schon?«
»Ich wollte dir dein Frühstück ans Bett bringen, aber ich habe mich nicht getraut.«
»Das war eine gute Entscheidung. Ich bin der einzige, der meine Schokolade richtig zu dosieren weiß.«

»Ach, Camille. Setz dich, mir wird sonst ganz schwindlig.«

»Wenn ich mich setze, muß ich dir eine ernste Mitteilung machen.«
»Oje... Dann bleib lieber stehen.«

Sie setzte sich ihm gegenüber, legte die Hände auf den Tisch und sah ihm in die Augen:
»Ich werde wieder anfangen zu arbeiten.«
»Pardon?«
»Ich habe vorhin meine Kündigung eingeworfen.«
Stille.
»Philibert?«
»Ja.«
»Sag was. Rede mit mir.«
Er setzte seinen Kakao ab und leckte sich den Schnurrbart:
»Nein. Das kann ich nicht. In dem Fall bist du ganz allein, meine Liebe.«


»Ich will in das hinterste Zimmer ziehen.«
»Aber Camille, das ist die reinste Rumpelkammer!«
»Mit einer Milliarde toter Fliegen, ich weiß. Aber es ist auch das hellste Zimmer, mit einem Fenster nach Osten und einem nach Süden.«
»Und das ganze Chaos?«
»Darum kümmere ich mich.«
Er seufzte:
»Was Frau will...«
»Du wirst schon sehen, du wirst stolz auf mich sein.«
»Das glaube ich gern. Und ich?«
»Was?«
»Darf ich dich auch um etwas bitten?«
»Eh ja.«
Er errötete leicht:
»Ste... stell dir vor, du...du willst ei... einer jungen Frau, die du ni... nicht kennst, ei... ein Geschenk machen, wa... was würdest du ihr sche... schenken?«
Camille sah ihn von unten her an:
»Pardon?«
»Tu... tu nicht so... so, du... du hast mich genau ver... verstanden.«
»Ich weiß nicht recht, was ist denn der Anlaß?«
»Kei... kein be... besonderer Anlaß.«
»Wann brauchst du es?«
»Sa... Samstag.«
»Schenk ihr Guerlain.«
»Pa... Pardon?«
»Parfum.«
»Ich... Ich wüßte niemals, we... welches ich nehmen soll.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Bi... Bitte.«
»Kein Problem! Das machen wir in deiner Mittagspause.«
»Da... Danke.«


»Ca... Camille?«
»Ja?«
»Es... es ist nur eine Fr... Freundin.«
Sie stand lachend auf.
»Na klar.«
Dann, als sie die Kätzchen auf dem Kalender der Post bemerkte:
»Nanu! Am Samstag ist Valentinstag. Wußtest du das?«
Er tauchte wieder in seinen Kakao ab.

»Gut, ich laß dich allein, ich hab zu tun. Ich hol dich um zwölf am Museum ab.«

Er war noch nicht wieder aufgetaucht und gluckerte noch in seinem Nesquicksatz, als sie mit ihrem Ajax und einer Batterie an Schwämmchen die Küche verließ.

Als Franck am frühen Nachmittag zu seinem Mittagsschläfchen zurückkam, fand er die Wohnung verlassen und völlig auf den Kopf gestellt vor:
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.12.2005