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Nix. Ich wohn mit Prinz Charles und Schwester Emmanuelle zusammen und bin tierisch gut drauf. Aus dem Weg, ich bin spät dran. Ach, übrigens?«
»Was?«
»Gib mir mal deinen Arm. Sehr gut!«, sagte er belustigt, während er sie befühlte. »Alle Achtung, du Mops. Aufgepaßt, sonst wirst du bald vernascht...«
»Nicht im Traum, Herr Küchenmeister. Nicht im Traum.«
»Aber ja, mein Täubchen, doch, doch.«
Ja, die Welt war viel fröhlicher.

Mit der Jacke unterm Arm kam er zurück:
»Nächsten Mittwoch...«
»Was nächsten Mittwoch?«
»Da ist Faschingsmittwoch, am Dienstag hab ich nämlich zuviel zu tun, da wartest du mit dem Abendessen auf mich.«
»Bis Mitternacht?«
»Ich will versuchen, früher zu kommen, und ich werde dir Faschingscrêpes machen, wie du sie noch nie im Leben ge- gessen hast.«
»Ah! Ich hab schon Angst gekriegt! Ich dachte, du hättest dir den Tag ausgesucht, um mich zu vernaschen!«
»Ich mach dir Crêpes, und hinterher vernasch ich dich.«
»Perfekt.«

Perfekt? Tickte er noch richtig, der Blödmann. Was würde er bis Mittwoch machen? Gegen alle Laternenpfähle laufen, seine Soßen vermasseln und frische Unterwäsche kaufen? Scheiße, das durfte nicht wahr sein! Früher oder später würde sie ihn schaffen, dieses Miststück! Die Angst. Hoffentlich klappte es... Er beschloß, sich vorsichtshalber trotzdem eine neue Unterhose zu kaufen.
Ja, am Grand Marnier würde er nicht sparen, das sag ich euch, daran wird nicht gespart. Und was ich nicht zum Flambieren brauche, wandert in meine Kehle.

Camille ging anschließend mit ihrem Tee zu ihr. Sie setzte sich aufs Bett, zog an der Daunendecke, und gemeinsam warteten sie, bis die Jungs gegangen waren, um sich eine Verkaufssendung anzusehen. Sie waren verzückt, glucksten, lachten über die Kleider der Weiber, und Paulette, die den Übergang zum Euro noch nicht verinnerlicht hatte, wunderte sich darüber, wie günstig das Leben in Paris war. Die Zeit existierte nicht mehr, dehnte sich träge vom Teekessel zum Monoprix und vom Monoprix zum Zeitungsverkäufer.
Sie fühlten sich wie im Urlaub. Dem ersten seit Jahren für Camille und dem ersten überhaupt für die alte Frau. Sie verstanden sich gut, ohne viel Worte, und wurden beide jünger, je länger die Tage wurden.

Camille war das geworden, was die Krankenkasse eine »Häusliche Krankenpflegerin« nannte. Diese zwei Worte gefielen ihr gut, und sie kompensierte ihre mangelnden Altenpflegekenntnisse mit forschen Tönen und klaren Worten, die ihnen beiden die Hemmungen nahmen.

Da sich der Einbau einer Duschkabine als zu kompliziert erwiesen hatte, hatte Franck zum Besteigen der Badewanne eine rutschfeste Stufe gebaut und die Beine eines alten Stuhls abgesägt, auf den Camille ein Frotteehandtuch legte, bevor sie ihren Schützling daraufsetzte.
»Oh«, stöhnte sie, »aber mich geniert es. Du kannst dir nicht vorstellen, wie unangenehm es mir ist, dir das hier aufzuhalsen.«
»Papperlapapp.«
»Dieser alte Körper, ekelt der dich nicht an? Bist du sicher?«
»Wissen Sie, ich... ich glaube, ich sehe die Dinge etwas an-ders als Sie. Ich... ich habe Anatomieunterricht gehabt, ich habe nackte Menschen gezeichnet, die mindestens so alt waren wie Sie, und ich habe keine Scham. Das heißt, doch, aber nicht in diesem Fall. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber wenn ich sie anschaue, sag ich mir nicht: igitt, diese Falten, diese Hängebrüste, dieser Schlabberbauch, diese weißen Haare oder diese X-Beine. Nein, überhaupt nicht. Vielleicht kränkt Sie das jetzt, aber Ihr Körper interessiert mich unabhängig von Ihnen. Ich denke an Methode, Technik, Licht, Konturen, zu schmückendes Fleisch. Ich denke an bestimmte Gemälde. Die verrückten Alten von Goya, die Todesallegorien, Rembrandts Mutter oder seine Prophetin Anne. Entschuldigen Sie, Paulette, es ist schrecklich, was ich Ihnen da sage, aber... in Wahrheit betrachte ich Sie ganz kühl!«
»Wie eine Kuriosität?«
»Ein bißchen trifft es das. Wie ein Ausstellungsstück eher.«
»Und?«
»Nichts und.«
»Wirst du mich auch mal malen?«
»Ja.«
Stille.
»Ja, wenn Sie es mir erlauben. Ich würde Sie gern so lange malen, bis ich Sie auswendig kenne. Bis Sie meine Anwesenheit nicht mehr spüren.«
»Ich werde es dir schon erlauben, aber, wirklich, ich... Du bist nicht einmal meine Tochter, nichts in der Art, und ich... Ach, mich macht das verlegen.«

Camille hatte sich schließlich ausgezogen und kniete vor ihr auf dem gräulichen Email:
»Waschen Sie mich.«
»Pardon?«
»Nehmen Sie die Seife, den Waschlappen und waschen Sie mich, Paulette.«
Diese kam der Aufforderung nach und führte, auf ihrem Unterwasser-Betschemel schlotternd, den Arm zum Rücken der jungen Frau:
»Nur zu! Fester!«
»Mein Gott, bist du jung. Wenn ich daran denke, daß ich auch mal so war. Ich war natürlich nicht so zierlich, aber...«
»Sie meinen dürr?« unterbrach sie Camille und hielt sich an den Armaturen fest.
»Nein, nein, ich meinte wirklich ÝzierlichÜ. Ich weiß noch, als Franck mir das erste Mal von dir erzählte, hatte er nur dieses eine Wort: ÝAch Omi, sie ist so dürr. Wenn du wüßtest, wie dürr sie istÜ, aber wenn ich dich jetzt sehe, wie du hier sitzt, bin ich gar nicht seiner Ansicht. Du bist nicht dürr, du bist grazil. Du erinnerst mich an diese junge Frau in dem Buch von dem Großen Meaulnes. Weißt du? Wie hieß sie noch mal? Hilf mir.«
»Das hab ich nicht gelesen.«
»Sie hatte auch einen adligen Namen. Ach, wie ärgerlich.«
»Wir könnten in die Bibliothek gehen und nachschauen. Weiter jetzt! Tiefer noch! Und wieso nicht? Sekunde, ich dreh mich um. So. Sehen Sie? Wir sitzen im selben Boot, meine Liebe! Warum sehen Sie mich so an?
»Ich... Diese Narbe hier.«
»Ach so. Das ist nichts.«
»Nein... Das ist nicht nichts. Was ist da passiert?«
»Nichts, sag ich doch.«
Und von diesem Tag an war zwischen ihnen nie mehr von Haut die Rede.
Camille half ihr auf die Klobrille, dann unter die Dusche, seifte sie ein und redete von etwas anderem. Das Haarewaschen erwies sich als heikler. Jedesmal, wenn sie die Augen schloß, verlor die alte Frau das Gleichgewicht und kippte nach hinten über. Nach mehreren katastrophalen Versuchen entschieden sie sich für einen regelmäßigen Friseurbesuch.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.12.2005