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Seufzend ging er aus dem Zimmer:
»Ich hab euch ja gesagt, das ist eine Schnapsidee. Jetzt dreht sie völlig durch.«
Camille sah Philibert an, und Philibert sah woandershin.

»Paulette?«
»Ah, du bistÕs, Kleines. Du... Wie heißt du noch?«
»Camille.«
»Genau. Was möchtest du, Liebes?«

Camille redete Klartext mit ihr, unverblümt. Erinnerte sie daran, woher sie kam, warum sie bei ihnen war, was die drei an ihrem Lebenswandel schon geändert hatten und noch ändern würden, um bei ihr zu sein. Sie erwähnte noch unzählige weitere einschneidende Details, die die alte Dame völlig hilflos machten:
»Dann werde ich also nie mehr nach Hause zurückkehren?«
»Nein.«
»Nein?«
»Kommen Sie mit, Paulette.«
Camille nahm sie bei der Hand und machte noch einmal eine Führung. Langsamer dieses Mal. Sie klopfte alles noch mal fest:
»Das hier sind die Toiletten. Sehen Sie, Franck ist dabei, Griffe an der Wand zu montieren, damit Sie sich daran festhalten können.«
»Unfug«, brummte er.

»Das hier ist die Küche. Ganz schön groß, oder? Und kalt. Deshalb habe ich gestern den Teewagen geflickt. Damit Sie in Ihrem Zimmer essen können...«
»... oder im Salon«, stellte Philibert klar, »Sie müssen sich nicht den ganzen Tag einschließen, wissen Sie?«
»Gut, der Flur, der ist sehr lang, aber Sie können sich an der Wandtäfelung festhalten, nicht wahr? Wenn Sie Hilfe brauchen, gehen wir in die Apotheke und leihen uns ein Wägelchen aus.«
»Ja, das wäre gut.«
»Kein Problem! Einen Motorradfahrer haben wir ja schon im Haus.«
»Hier, das Badezimmer. Und da müssen wir uns ernsthaft unterhalten, Paulette. Setzen Sie sich auf den Stuhl... Schauen Sie sich um. Sehen Sie, wie schön es ist?«
»Sehr schön. So was habe ich in meiner Gegend noch nie gesehen.«
»Gut. Und wissen Sie, was Ihr Enkel und seine Freunde morgen machen?«
»Nein.«
»Sie werden es verwüsten. Sie werden für Sie eine Duschkabine einbauen, weil die Badewanne zum Hineinsteigen zu hoch ist. Bevor es also zu spät ist, müssen Sie sich endgültig entscheiden. Entweder Sie bleiben hier, und die Jungs machen sich an die Arbeit, oder aber Sie haben keine rechte Lust zu bleiben - kein Problem, Sie entscheiden, wie Sie wollen, Paulette -, aber dann müssen Sie es uns jetzt sagen, verstehen Sie?«
»Verstehen Sie?« wiederholte Philibert.
Die alte Dame seufzte, spielte einige Sekunden, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkamen, mit dem Zipfel ihrer Strickjacke, hob dann den Kopf und fragte besorgt:
»Habt ihr an den Schemel gedacht?«
»Pardon?«
»Ich bin nicht behindert, wißt ihr? Ich kann sehr wohl allein duschen, aber ich brauche einen Schemel, sonst...«
Philibert tat, als notierte er es auf dem Handteller:
»Einen Schemel für die Dame am Ende des Flurs! Ist vermerkt! Was noch, bitte sehr?«
Sie lächelte:
»Sonst nichts.«
»Sonst nichts?«
Dann legte sie los:
»Doch. Ich hätte gern meinen Télé Star, meine Kreuzworträtsel, meine Stricknadeln und Wolle für die Kleine, eine Dose Niveacreme, weil ich meine vergessen habe, Bonbons, ein kleines Radio auf dem Nachttisch, Brausetabletten für mein Gebiß, Strumpfhalter, Hausschuhe und einen wärmeren Morgenmantel, weil es hier überall zieht, Vorlagen, Puder, mein Parfümfläschchen, das Franck neulich vergessen hat, ein zweites Kopfkissen, eine Lupe und auch, daß ihr meinen Sessel näher ans Fenster stellt, und...«
»Und?« fragte Philibert besorgt.
»Und das warÕs.«
Franck, der sich mit seinem Werkzeugkasten zu ihnen gesellt hatte, schlug seinem Kollegen auf die Schulter:
»Verflucht, Alter, jetzt haben wir zwei Prinzessinnen im Haus.«
»Vorsicht!« schimpfte Camille, »du verteilst hier überall Staub.«
»Und hör bitte auf, so zu fluchen!« fügte seine Großmutter hinzu.

Er schlurfte davon:
»Oooh Verflixxxxt und zugenääääht. Das wird was geben. Das geht nicht gut, Kumpel, das geht nicht gut. Ich mach mich wie-der auf zur Arbeit, dort ist es ruhiger. Wenn jemand einkaufen geht, bringt mir Kartoffeln mit, damit ich euch Gehacktes machen kann. Und die richtigen diesmal, habt ihr gehört! Ihr müßt genau hinschauen. Mehlige Kartoffeln. Das ist doch nicht schwer, das steht drauf auf dem Netz.«

»Das geht nicht gut, das geht nicht gut«, hatte er vorausgesagt und lag mit seiner Einschätzung ziemlich daneben. Im Gegenteil, es war ihnen noch nie im Leben so gut gegangen.

So ausgedrückt, klang es ein wenig albern, aber nun, es entsprach der Wahrheit, und es war lange her, daß ihnen Lappalien etwas anhaben konnten: Zum ersten Mal und alle miteinander hatten sie das Gefühl, eine echte Familie zu haben.
Besser noch als eine echte, eine selbstgewählte, eine gewollte, eine, für die sie sich eingesetzt hatten und die nichts weiter forderte, als daß sie zusammen glücklich waren. Nicht einmal glücklich, so vermessen waren sie gar nicht mehr. Zusammenzusein war alles. Und schon mehr als erwartet.


4. Kapitel
Nach dem Intermezzo im Badezimmer war Paulette nicht mehr dieselbe. Sie hatte ihren Platz gefunden und ging mit erstaunlicher Unbeschwertheit in dem sie umgebenden Souk auf. Vielleicht hatte sie nur eine Bestätigung gebraucht? Die Bestätigung, daß sie in dieser großen leeren Wohnung, in der die Fensterläden von innen geschlossen wurden und seit der Restauration niemand mehr am Staub gerührt hatte, erwartet und willkommen war. Wenn sie allein ihretwegen eine Dusche einbauten, dann... Sie hätte beinahe den Boden unter den Füßen verloren, weil ihr zwei, drei Sachen fehlten, und Camille mußte oft an die Situation zurückdenken. Wie Menschen häufig unter Nichtigkeiten litten, und wie sich alles blitzschnell hätte verschlechtern können, wenn dieser große geduldige Junge nicht gewesen wäre, der »Was noch?« gefragt und dabei ein imaginäres Notizbuch gezückt hatte. Woran hatte es schließlich gehapert? An einer falschen Zeitung, an einer Lupe und zwei oder drei Fläschchen? Es war schwindelerregend. Ihre kleine Philosophie zu zwei fuffzig, der sie sich verschrieb und die sich überdies als komplexer erwies, als sie beide vor dem Zahnpastaregal im Supermarkt standen und die Hinweise der Steradent, Polident, Fixadent und anderen Wunderkleber lasen.
»Und... Paulette, eh... was Sie... eh... ÝVorlagenÜ nennen, was ist das?«
»Du willst mich doch nicht in eine Windel stecken, wie sie sie mir dort gegeben haben, weil es angeblich billiger ist!« regte sie sich auf.
»Ach so! Binden!« gab Camille erleichtert zurück. »Jetzt weiß ich Bescheid. Ich war grad völlig woanders.«

Den Franprix kannten sie offen gesagt in- und auswendig, und bald hatte er seinen Reiz eingebüßt! Mit Tippelschritten, ihrem Wägelchen und der Einkaufsliste, die Franck am Abend zuvor geschrieben hatte, liefen sie nun durch den Monoprix.
Ja! Der Monoprix.
Ihr ganzes Leben.

Paulette wurde immer als erste wach und wartete darauf, daß ihr einer der Jungen das Frühstück ans Bett brachte. Wenn Philibert diese Aufgabe zufiel, geschah es stets auf einem Tablett mit Zukkerzange, einer bestickten Serviette und einem kleinen Milchkännchen. Er half ihr anschließend beim Aufstehen, schüttelte ihre Kopfkissen aus und zog die Vorhänge auf, wobei er eine kleine Bemerkung über das Wetter fallenließ. Noch nie war ein Mann ihr gegenüber so zuvorkommend gewesen, und so kam es, wie es kommen mußte: Sie begann, auch ihn zu vergöttern. Wenn Franck an der Reihe war, fiel es... eh... rustikaler aus. Er stellte ihr eine Schale Malzkaffee auf den Nachttisch, rutschte ihr schnell mit seinem Stoppelbart über die Wange und fluchte, weil er schon wieder zu spät dran war.
»Mußt du nicht pinkeln?«
»Ich warte auf die Kleine.«
»He, Omi, is gut jetzt. Laß sie in Ruhe! Vielleicht schläft sie noch Õne Stunde! Du wirst dich doch nicht so lange zurückhalten.«
Unerschütterlich wiederholte sie:
»Ich warte auf sie.«
Franck zog grummelnd davon.
Na gut, dann wart halt auf sie. Wart auf sie. Gemein ist das, alles dreht sich nur noch um dich. Ich wart auch auf sie! Was muß ich denn anstellen? Muß ich mir beide Beine brechen, damit sie mir auch schöntut? Die geht mir auf den Zeiger, unsere Mary Poppins, geht mir echt auf den Zeiger.

In dem Moment kam sie aus ihrem Zimmer und streckte sich:
»Was knurrst du schon wieder?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.12.2005