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Dann, mit einemmal arglos, verscheuchte Paulette die dunklen Wolken:
»Sagt mal. Nehmt ihr mich mit ins Theater? Werden wir uns Operetten anschauen?«

Philibert drehte sich um und trällerte: »Bin ein scheener Brrasiliano, komm aus Rio de Janeiro, hab viel Gold und bin ganz reeeiiisch, Paris, Paris, isch komme gleisch!«

Camille nahm seine Hand, und Franck lächelte Camille im Rückspiegel zu.
Wir vier, hier, jetzt, in diesem billigen Clio, befreit, zusammen, hoffen wir das Beste.

Alles, was isch dort gestohlen haaabeeeee! wiederholten sie allesamt im Chor.


Teil 4
1. Kapitel
Dies ist eine Hypothese. Die Geschichte wird nicht weit genug gehen, um sie zu bestätigen. Und unsere Gewißheiten halten sowieso nie stand. An einem Tag wollen wir sterben, am nächsten stellen wir fest, daß wir nur ein paar Stufen hinabzusteigen brauchen, um den Schalter zu finden und etwas klarer zu sehen. Dennoch machten sich unsere vier bereit, das zu leben, was möglicherweise als ihre schönsten Tage im Leben in Erinnerung bleiben würde.

Von dem Moment an, da sie ihr das neue Haus zeigten und halb ergriffen, halb beunruhigt auf ihre Reaktion und ihre Kommentare warteten (es gab keine), bis zum nächsten Rums des Schicksals - dieses Spaßvogels - strich ein lauwarmer Wind über ihre müden Gesichter.
Eine Liebkosung, eine Rast, Balsam.
Sentimental healing, wie der andere sagen würde...

In der Familie der Schwergebeutelten hatten wir von nun an eine Großmutter, und auch wenn die Sippe nicht vollständig war, sie würde es niemals sein, hatten sie nicht die Absicht, sich unterkriegen zu lassen.
Fürs Familienquartett waren sie nicht zahlreich genug. Dann laßt uns Poker spielen, das wäre ein Viererpasch. Gut, vielleicht nicht gerade vier Asse. Zu viele Beulen, zuviel Gestammel und zu viele Nähte überall, um das behaupten zu können, aber... immerhin! Ein Viererpasch!
Sie waren keine besonders guten Spieler, leider.
Nicht mal, wenn sie sich konzentrierten. Nicht mal, wenn sie entschlossen waren, ausnahmsweise einmal die Oberhand zu behalten, wie sollte man von einem unbewaffneten Chouan, einer zarten Fee, einem Jungen, dem sie ins eigene Fleisch geschnitten hatten, und einer alten Frau voller blauer Flecken verlangen, gekonnt zu bluffen?
Unmöglich.
Pah! Was sollĂ•s? Ein kleiner Einsatz und lächerliche Gewinne waren immer noch besser als zu passen...

2. Kapitel
Camille blieb nicht bis zu ihrem letzten Tag: Josy B. roch einfach zu schlecht. Sie mußte zum Firmensitz (was für ein Wort), um über ihre Kündigung zu verhandeln und ihre... Wie sagten sie noch?... ihre Außenstände abzüglich aller Ausgaben einzuholen. Sie hatte über ein Jahr in der Firma gearbeitet und nie Urlaub genommen. Sie wog das Pro und Kontra ab und beschloß, das Ganze auf sich beruhen zu lassen.

Mamadou nahm es ihr übel:
»Also, du. Also du«, wiederholte sie am letzten Abend in einem fort und fuhr ihr beim Fegen zwischen die Beine. »Also, du...«
»Was ich?« erregte sich Camille beim hundertsten Mal. »Sprich deinen Satz zu Ende, Mensch! Was, ich?«
Mamadou schüttelte traurig den Kopf:
»Also, du... nichts.«
Camille ging in ein anderes Zimmer.

Sie wohnte in entgegengesetzter Richtung, stieg aber in dieselbe verlassene Bahn und nötigte Mamadou, ein Stück zu rücken, damit sie sich zu ihr auf die Bank setzen konnte. Sie waren wie Asterix und Obelix, wenn diese schlecht aufeinander zu sprechen waren. Camille stieß ihr ein wenig mit dem Ellbogen ins Fett und wurde im Gegenzug fast zu Boden geschleudert.
Sie starteten mehrere Anläufe.
»He, Mamadou. Nicht eingeschnappt sein.«
»Ich bin nicht eingeschnappt, und ich verbiete dir, mich noch einmal Mamadou zu nennen. Ich heiß überhaupt gar nicht Mamadou! Ich hasse diesen Namen! Die Mädels von der Arbeit haben mich so genannt, aber ich heiß gar nicht Mamadou. Und wo du jetzt nicht mehr meine Kollegin bist, soviel ich weiß, verbiete ich dir, mich noch einmal so zu nennen, klar?«
»Aha? Eh, wie heißt du dann?«
»Das sag ich dir nicht.«
»Hör zu, Mam... eh, meine Liebe. Dir will ich die Wahrheit sagen: Ich höre nicht auf wegen Josy. Ich höre nicht auf wegen der Arbeit. Ich höre nicht auf, weil es so schön ist, aufzuhören. Ich höre nicht auf wegen der Bezahlung. Die Wahrheit ist: Ich höre auf, weil ich eine andere Arbeit habe. Eine Arbeit, die... na ja, glaub ich wenigstens - ich... ich bin mir nicht sicher -, aber eine Arbeit, die ich besser kann als das hier, und bei der ich glücklicher sein kann.«
Stille.
»Und außerdem ist das nicht der einzige Grund. Ich kümmere mich noch um eine alte Frau, und ich will abends nicht mehr weggehen, verstehst du? Ich habe Angst, daß sie fällt.«
Stille.
»Okay, ich steig hier aus. Sonst muß ich wieder für ein Taxi blechen.«
Die andere hielt sie am Arm fest und zwang sie auf den Sitz zurück.
»Du bleibst noch. Es ist erst null Uhr vierunddreißig.«

»Was machst du?«
»Pardon?«
»Deine neue Arbeit, was machst du?«
Camille hielt ihr das Skizzenheft hin.

»Hier«, sagte sie und gab es ihr zurück, »das ist gut. Ich bin einverstanden. Du kannst jetzt gehen, aber trrotzdem... War schön, dich kennenzulernen, du kleiner Grrashüpfer«, fügte sie hinzu und wandte sich ab.
»Ich muß dich noch um einen Gefallen bitten, Mama...«
»Du willst, daß mein Léopold dir den Erfolg sichert und die Kunden?«
»Ich... ich will, daß du für mich posierst.«
»Daß ich was?«
»Daß du mir Modell sitzt.«
»Ich?«
»Ja.«
»Sag mal, machst du dich über mich lustig?«
»Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, damals waren wir noch in Neuilly, möchte ich gern ein Porträt von dir zeichnen.«
»Hör auf, Camille! Ich bin ja nicht mal schön!«
»Für mich schon.«
Stille.
»Für dich schon?«
»Für mich schon.«
»Was ist daran schön?« fragte sie und zeigte auf ihr Spiegelbild in der schwarzen Scheibe. »He? Welche Stelle meinst du?«
»Wenn ich es schaffe, ein Porträt von dir zu zeichnen, und wenn es mir gut gelingt, dann wird man darin alles sehen können, was du mir je erzählt hast. Alles. Deine Mutter und deinen Vater. Deine Kinder. Das Meer. Und... wie hieß sie noch?«
»Wer?«
»Deine kleine Ziege?«
»Bouli.«
»Auch Bouli. Und deine verstorbene Kusine und... und den ganzen Rest.«
»Du redest ja wie mein Bruder! Hast lauter komische Flausen im Kopf!«
Stille.
»Aber... ich bin mir nicht sicher, ob es gelingt.«
»Nicht? Dann sag ich dir eins: Wenn man in meinem Kopf meine Bouli nicht sieht, hab ich nix dagegen!« lachte sie. »Aber... Was du da von mir verlangst, das dauert, oder?«
»Ja.«
»Dann kann ich nicht.«
»Du hast meine Nummer. Nimm dir bei Proclean ein, zwei Tage frei und komm bei mir vorbei. Ich zahl dir die Stunden. Modelle werden immer bezahlt. Das ist ein richtiger Beruf, weißt du? Okay, ich muß jetzt. Wir... Krieg ich einen Kuß?«
Die andere erdrückte sie an ihrer Brust.
»Wie heißt du, Mamadou?«
»Sag ich dir nicht. Mein Name gefällt mir nicht.«

Camille rannte über den Bahnsteig und mimte ein Telefon am Ohr. Ihre Ex-Kollegin winkte müde mit der Hand. Vergiß mich, kleine weiße Frau, vergiß mich. Du hast mich sowieso schon vergessen.

Sie schneuzte sich geräuschvoll.
Sie hatte sich immer gern mit ihr unterhalten.
Wirklich.
Niemand anderes auf der Welt hatte ihr je zugehört.


3. Kapitel
In den ersten Tagen kam Paulette nicht aus ihrem Zimmer. Sie hatte Angst zu stören, sie hatte Angst, sich zu verlaufen, sie hatte Angst zu fallen (sie hatten ihr Wägelchen vergessen), und vor allem hatte sie Angst, ihre Kurzschlußhandlung zu bereuen.
Oft kam sie durcheinander, redete davon, daß sie sehr schöne Ferien verbringe, und fragte, wann sie die Absicht hätten, sie wieder nach Hause zu bringen.
»Wo soll das sein, dein Zuhause?« regte Franck sich auf.
»Das weißt du doch, zu Hause, bei mir...«


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.12.2005