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Und das ist noch nicht alles, Camille... unter dem Griff befindet sich eine Vorrichtung für eine kleine Flasche Wasser!«
»Kann man da nur Wasser abstellen?« fragte Franck beunruhigt.
»Das ist doch nicht zum Trinken, du Dummkopf«, amüsierte sich Paulette, »sondern zum Mischen der Farben!«
»Ach so, ach so, bin ich blöd.«
»Ge... gefällt es dir?« erkundigte sich Philibert besorgt.
»Es ist herrlich!«
»Di... dir wäre ei... ein nackter Ma... Mann nicht lieber gewesen?«

»Hab ich Zeit, es gleich auszuprobieren?«
»Nur zu, nur zu, wir warten sowieso noch auf René.«

Camille wühlte in ihrer Tasche nach der kleinen Aquarelldose, drehte die Verschlüsse auf und setzte sich vor das große Fenster.

Sie malte die Loire. Langsam, breit, ruhig, unbeirrbar. Die lässig gestreckten Sandbänke, die Pflöcke und die verschimmelten Kähne. Ein Kormoran weiter hinten. Die hellen Binsen und das Blau des Himmels. Ein winterliches Blau, metallisch, durchdringend, prahlerisch, übertrieben zwischen zwei schweren, müden Wolken.

Odette war wie hypnotisiert:
»Wie macht sie das bloß? Sie hat doch nur acht Farben in ihrem Ding!«
»Ich schummele, aber psst. Hier. Das ist für Sie.«
»Oh, vielen Dank! Danke! René! Komm hier rüber!«
»Das Essen geht heute aufs Haus!«
»Aber nicht doch.«
»Doch, doch, keine Widerrede.«

Als sie sich zu ihnen setzte, schob ihr Paulette unterm Tisch ein Päckchen zu: Es war eine Mütze passend zum Schal. Die gleichen Löcher, die gleichen Farben. Toll!

Ein paar Jäger kamen vorbei, Franck folgte ihnen mit dem Chef des Hauses in die Küche, sie stießen mit dem guten Weinbrand an und kommentierten die Jagdtaschen. Camille erfreute sich ihres Geschenks, und Paulette erzählte Philibert, der seine langen Beine ausgestreckt hatte und ihr begeistert zuhörte, vom Krieg.
Dann kam die Stunde der Wahrheit, die Dämmerung setzte ein, Paulette nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Keiner sagte ein Wort.
Die Landschaft wurde immer häßlicher.
Sie umfuhren die Stadt und durchquerten öde Gewerbegebiete: den Supermarkt, die Hotels zu 29 Euro mit Kabelanschluß, die Schuppen und Möbelspeicher. Schließlich hielt Franck an.
Ganz am Ende des Gewerbegebiets.

Philibert stand auf, um ihr die Tür aufzumachen, und Camille nahm ihre Mütze ab.
Paulette strich ihr über die Wange.
»Los, komm schon«, brummte Franck, »machen wirÕs kurz. Ich hab keine Lust, mich von der Obermutti anmachen zu lassen!«

Als er zurückkam, hatte die Gestalt den Store bereits aufgezogen.
Er setzte sich wieder ins Auto, machte ein verdrießliches Gesicht und holte tief Luft, bevor er die Kupplung kommen ließ.

Er war noch nicht vom Parkplatz herunter, als Camille ihm auf die Schulter klopfte:
»Halt an.«
»Was hast du denn jetzt schon wieder vergessen?«
»Halt an, sag ich.«

18. Kapitel
Er drehte sich um.
»Und jetzt?«

»Was kostet euch das?«
»Pardon?«
»Das hier? Das Heim?«
»Warum fragst du?«
»Wieviel?«
»Um die zehntausend Franc.«
»Wer zahlt das?«
»Das geht von der Rente meines Opas, siebentausendzwölf Franc, und dann vom Sozialamt oder was weiß ich.«
»Ich persönlich verlange zweitausend Franc von dir als Taschengeld, den Rest behältst du und hörst auf, sonntags zu arbeiten, um mich zu entlasten.«
»Moment, was redest du da?«
»Philou?«
»Nein, nein, das ist deine Idee, meine Liebe«, zierte er sich.
»Ja, aber es ist dein Haus, mein Lieber.«
»He! Was geht hier ab? Was faselt ihr da für wirres Zeug?«
Philibert machte das kleine Deckenlämpchen an:
»Wenn du willst...«
»Und wenn sie will...« präzisierte Camille.
»... nehmen wir sie mit«, sagte Philibert lächelnd.
»M... mit, wohin?« stammelte Franck.
»Zu uns... nach Hause.«
»Wann... wann denn das?«
»Jetzt.«
»Jeeetzt?«
»Sag mal, Camille, sehe ich genauso töricht aus, wenn ich stottere?«
»Nein, nein«, beruhigte sie ihn, »diesen belemmerten Blick hast du nicht.«
»Und wer soll sich um sie kümmern?«
»Ich. Aber ich hab dir gerade meine Bedingungen genannt.«
»Und dein Job?«
»Nichts mehr mit Job! Aus und vorbei!«
»Aber eh...«
»Was?«
»Ihre Medikamente und alles?«
»Tja, die geb ich ihr! Es kann ja wohl nicht so schwer sein, Tabletten abzuzählen, oder?«
»Und wenn sie fällt?«
»Tja, sie wird nicht fallen, ich bin ja da!«
»Aber eh... Wo... wo schläft sie?«
»Ich überlasse ihr mein Zimmer. Es steht alles bereit.«
Er legte die Stirn aufs Lenkrad.

»Und du, Philou, was hältst du davon?«
»Am Anfang nicht viel, aber jetzt immer mehr. Ich glaube, dein Leben wäre viel leichter, wenn wir sie mitnähmen.«
»Aber so ein alter Mensch ist ganz schön schwer!«
»Meinst du? Was wiegt denn deine Großmutter? Fünfzig Kilo? Nicht mal...«
»Wir können sie nicht einfach so entführen?«
»Nicht?«
»Das geht nicht.«
»Wenn wir eine Entschädigung zahlen müssen, tun wir das eben.«
»Kann ich mal eine Runde laufen?«
»Nur zu.«
»Drehst du mir eine, Camille?«
»Hier.«
Er schlug die Tür hinter sich zu.

»Das ist eine Schnapsidee«, befand er, als er sich wieder ins Auto setzte.
»Wir haben nie das Gegenteil behauptet. Was, Philou?«
»Nie. Wir sind ja nicht blöd!«
»Macht euch das keine Angst?«
»Nein.«
»Wir haben schon andere gesehen, stimmtÕs?«
»O ja!«
»Glaubt ihr, es wird ihr in Paris gefallen?«
»Wir nehmen sie nicht mit nach Paris, wir nehmen sie mit zu uns!«
»Wir zeigen ihr den Eiffelturm!«
»Nein. Wir zeigen ihr viel schönere Stellen als den Eiffelturm.«
Er seufzte.
»Okay, wie machen wir jetzt weiter?«
»Darum kümmere ich mich«, sagte Camille.

Als sie das Auto unter dem Fenster abstellten, war sie immer noch da.

Camille rannte los. Vom Auto aus erlebten Franck und Philibert eine Szene in einem chinesischen Schattenspiel mit: kleine Gestalt, die sich umdreht, größere Gestalt neben ihr, Gesten, Kopfnicken, Schulterzucken, Franck wiederholte unablässig: »Das ist eine Schnapsidee, das ist eine Schnapsidee, wenn ichÕs euch sage, das ist eine Schnapsidee. Eine totale Schnapsidee.«
Philibert lächelte.
Die Gestalten tauschten die Plätze.

»Philou?«
»Mmm?«
»Was ist das für eine Frau?«
»Pardon?«
»Diese Frau, die du da aufgegabelt hast. Was ist das genau? Eine Außerirdische?«
Philibert lächelte.
»Eine Fee.«
»Ja, genau. Eine Fee. Du hast recht.«
»Und... eh... Haben... Haben Feen ein Sexualleben oder eh...«

»Was machen die denn noch, verflucht?«
Endlich ging das Licht aus.

Camille machte das Fenster auf und warf einen großen Koffer über Bord. Franck, der gerade seine Finger auffraß, zuckte zusammen:
»Scheiße, ist das eine Manie von ihr, Sachen aus dem Fenster zu werfen, oder was?«
Er lachte. Er weinte.
»Verflucht, Philou.« Dicke Tränen kullerten ihm über die Wangen. »Seit Monaten kann ich mir nicht mehr ins Gesicht sehen. Glaubst du daran? Scheiße, Mann, glaubst du daran?« Er zitterte.
Philibert reichte ihm ein Taschentuch.
»Es ist alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Wir werden sie schon verhätscheln. Mach dir keine Sorgen.«
Franck schneuzte sich und fuhr ein Stück vor. Er stürzte sich auf die Frauen, während Philibert den Koffer holte.

»Nein, nein, bleiben Sie vorne, junger Mann! Sie haben lange Beine.«

Grabesstille während der nächsten Kilometer. Jeder fragte sich, ob sie nicht gerade eine riesige Dummheit begangen hatten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.12.2005