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Lübeck: Stadt der Literatur
und des edlen Marzipans
Ein Kurzurlaub lohnt sich, denn es gibt eine Menge zu entdecken
Lübecker Marzipan wird nicht nur im Haus Niederegger hergestellt - aber mit einem täglichen Produktionsvolumen von 30 Tonnen ist das 1806 gegründete Unternehmen eindeutiger Platzhirsch und hat seinen Namen nicht nur als Marke, sondern gar als EU-weite Qualitätsnorm etabliert.
Im Stammhaus kann man nicht nur alle erdenklichen Varianten der süßen Verführung erstehen, sondern sich von der charmanten Konditorin Bianca in der Kunst des Marzipanmodellierens unterrichten lassen - und erfährt, dass Schriftsteller wie Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und Thomas Mann leidenschaftliche Marzipan-Schleckermäuler waren.
A propos Thomas Mann: Er war der erste von bislang drei Nobelpreisträgern aus Lübeck, und sein Buddenbrookhaus ist Treffpunkt nicht nur für Literaturfreunde. Denn dort erhält der Besucher auch Einblicke in den Alltag von Lübecker Kaufmannsfamilien, bevor man auf den Spuren der Familie durch die Gassen der Altstadtinsel wandert. Zur Adventszeit ist der Besuch besonders reizvoll: Dann wird das Haus mit Weihnachtsbäumen geschmückt, die streng nach Buddenbrook-Vorgabe mit Lametta, weißen Lilien und einem silbernen Engel an der Spitze verziert werden. Im Keller wird das Weihnachtskapitel aus dem berühmten Roman vorgelesen, dazu gibt es Naschwerk nach den Rezepten der Familie Mann.
Schnell stellt man fest: Lübeck eignet sich nicht als Tagesausflugsziel im Rahmen eines Ostsee-Urlaubs. Diese Stadt ist eine eigene, mehrtägige Reise wert, will man ihrem vielfältigen Angebot gerecht werden. Dabei kann man unmotivierte, dümmliche »Events« wie eine Eisskulpturen-Ausstellung im Tiefkühlzelt getrost außer Acht lassen, denn Lübecks etablierte kulturellen Sehenswürdigkeiten sind von bemerkenswerter Vielfalt.
Wie wäre es mit einem Besuch bei Günter Grass? Der streitbare Autor, mit nunmehr fast 80 Jahren der »jüngste« Nobelpreisträger, präsentiert in seinem Museum nicht nur das eigene geschriebene, grafische und bildhauerische Werk, sondern versteht das Haus als Zentrum, welches kulturellen Multitalenten und Mehrfachbegabten offen steht.
Direkt nebenan führt Grass-Freund Kurt Thater, der einzige Lübecker, der den Autor der »Blechtrommel« zur Nobelpreis-Verleihung nach Stockholm begleiten durfte, eine exklusive Vinothek. Der Meister persönlich hat für neun seiner italienischen Lieblingsweine eigene humorvolle Etiketten gestaltet und ist vorzugsweise am Dienstag Abend bei einem Schöppchen anzutreffen. Auch wenn Grass einer der herausragenden Intellektuellen im Land ist: kontaktscheu müssen Gäste nicht sein, denn ist sein Werk zuweilen auch etwas sperrig - der Mensch Grass wirkt zugänglich, ja sogar liebenswürdig.
Auf dem Weg zwischen Buddenbrook-Haus und Grass-Museum präsentiert sich Lübeck nicht nur als Hauptstadt der deutschen Literatur, sondern als Weltkulturerbe. Die Altstadtinsel, von sieben markanten Türmen überragt, verfügt über herausragende Monumente der Backsteingotik und großartige Kaufmannshäuser. Lübeck, vor Jahrhunderten Deutschlands zweitgrößte Stadt hinter Köln und eine der führenden Handelsmetropolen Europas, ist geprägt von schmalen Gassen und Höfen, die zum Teil nur gebückt durch niedrige Durchgänge erreichbar sind. Mitten in der Stadt finden sich kuschelige Oasen der Ruhe, blendend restauriert und wieder voller Leben.
Ein Aufenthalt in Lübeck wäre nicht vollständig ohne den Besuch im Museum »Behn- und Drägerhaus«. Zwei miteinander verbundene repräsentative Kaufmannshäuser, die man mit Fug und Recht auch als Stadtpaläste bezeichnen darf, obwohl ihre schlichten Vorderfronten dies kaum ahnen lassen, bergen fürwahr große Schätze. Die wohlhabenden Kaufleute prunkten mit eleganten Salons, die auch in Paris, Florenz oder auf englischen Herrensitzen zur Ehre gereicht hätten.
Besonders stolz sind die Lübecker aber auf die Werke, die Edvard Munch in ihrer Stadt schuf. Es war der Arzt Dr. Max Linde, der das Potenzial des norwegischen Malers erkannte, ihm Aufträge erteilte und sein Werk einer breiten Öffentlichkeit präsentierte.
Munchs Bildnis der vier Söhne des Mediziners ist eines seiner wichtigsten Werke und wird 2006 für mehrere Monate ans New Yorker Museum of Modern Art ausgeliehen. Thomas Albertsen

Artikel vom 10.12.2005