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Friedrich Nietzsche

»Irrwitz ist bei einzelnen eher selten, bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten aber häufig.«

Leitartikel
Zum Welt-Aidstag

Zivilisiert sein ist ein hoher Anspruch


Von Rolf Dressler
Die schauerliche Statistik der Aids-Opferzahlen verschlägt einem Atem und Sprache.
Wenn aber schon die bloße Berichterstattung darüber tiefe Beklemmung und das Gefühl der Ohnmacht hervorruft, wie sehr erst müssen die Leiden der Betroffenen dann auch auf all denen lasten, die sich der dramatischen Ausbreitung der millionenfach todbringenden Immunschwäche bis zur eigenen physischen und seelischen Erschöpfung entgegenzustellen versuchen?
Doch noch etwas Haarsträubendes treibt jedem einzelnen Helfer weit draußen, ob am Hauptkatastrophenplatz Schwarzafrika oder in der zweiten großen HIV-Epidemie-Region Fernost, die Zorn- und Schamesröte auf die Stirn: dass vor allem auch homosexuelle Männer in Deutschland und den europäischen Nachbarländern ihre sexuellen Praktiken zunehmend verantwortungslos gestalten - ungeachtet der vielfältigen Ansteckungsgefahren. Ausgerechnet in diesen ohnehin besonders gefährdeten Risikogruppen wird also offenbar gleichsam Russisches Roulette gespielt.
Häufiger Partnerwechsel und ungeschützter Geschlechtsverkehr - nicht zum ersten Mal kehrt diese verhängnisvolle Modeerscheinung wieder. Doch jeder, der vorsätzlich so handelt, fordert mit seinem bodenlosen Leichtsinn nicht nur das eigene Schicksal heraus: Er verhöhnt mit seinem Tun letztlich jeden Menschen, gleich welchen Alters, der, noch dazu ohne jegliches persönliches Verschulden, vom Aids-Virus befallen und womöglich bereits unrettbar dem Tode geweiht ist.
Gegen solche Beschreibungen trauriger Tatsachen setzten sich die rührigen Aidshilfe-Vereine in früheren Jahren stereotyp mit der Schutzbehauptung zur Wehr, insbesondere auch homosexuelle Männer, die nachweislich maßgeblich zur Verbreitung von Aids beitragen, dürften »keinesfalls diskriminiert werden«. Heute richtet die deutsche Aidshilfe ihre Hauptkräfte im Kampf gegen das unerhörte sexuelle Harakiri speziell in der Homosexuellen-Szene wieder auf Vorbeugungs- und Aufklärungskampagnen. Eine Einsicht, die wahrhaftig bitter nottut.
Das Virus indessen zieht noch immer nahezu ungebremst seine Bahn. 40,3 Millionen Aids-Infizierte - das ist Ende 2005 der bisherige historische Welt-Höchststand, 2,8 Millionen mehr als im Vorjahr. 38 Millionen sind Erwachsene und 2,3 Millionen Babys, Kleinkinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Allein 4,9 Millionen Menschen in- fizierten sich neu binnen der letz- ten zwölf Monate, gut 700000 waren im Kindesalter. 300000 Aidskranke starben im gleichen Zeitraum. Damit stieg die Gesamtzahl aller bisherigen Aids-Toten im laufenden Jahr auf 3,1 Millionen.
Besonders bedrückend: Die Immunschwäche trifft inzwischen bereits zur Hälfte Frauen, gänzlich wehr- und widerstandslose Kleinkinder und Heranwachsende.
In dieser Lage sollte sich menschenverachtender sexueller Leichtsinn von selbst verbieten.
Er ist der sogenannten zivilisierten Welt absolut unwürdig.

Artikel vom 01.12.2005