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Stammt aus Chicago: Der Komponist Sidney Corbett.

Rhythmus und Klang
statt Form und Farbe

Portraitkonzert mit Sidney Corbett in der Kunsthalle

Von Thomas Albertsen
Bielefeld (WB). Schwermütige Melodiefragmente verlassen seufzend das Klavier, vereinigen sich mit kratzigen Violinakkorden. Morbide Melancholie macht sich in der Bielefelder Kunsthalle breit. Wo sonst Bilder und Skulpturen im Mittelpunkt stehen, zwischen Nolde und Macke, Picasso und Richter, dominieren für einen Abend Rhythmus und Klang über Form und Farbe.


Die »Cooperativa Neue Musik« hat zur Begegnung mit dem amerikanischen Komponisten Sidney Corbett eingeladen, der so ganz den Klischees seiner Heimat widerspricht. Der Yale-Absolvent ist zwar Baseball-Fan, verehrt Abraham Lincoln und Martin Luther King -ĂŠaber wenn er seine Gitarre auspackt, dann klingt das keinesfalls nach Slash, B.B. King oder Chet Atkins. Corbett vermeidet die tonale Festlegung ebenso wie klar definierte Taktschwerpunkte, präsentiert stattdessen Klangmalereien jenseits von Pathos und Schmalz. Und in der Tat ist sein Werk auch weitgehend leise und introvertiert. Dabei kommen die dramatischen Aspekte keinesfalls zu kurz, wenn sie in ganz erstaunlicher Vielfalt Eingang in seine Musik finden.
In Bielefeld konnte Sidney Corbett sich auf exzellente Solisten verlassen, die seinen Werken Leben einhauchten: Der Pianist Jan Gerdes hat sich mittlerweile auch international einen Namen als ebenso virtuoser wie feinfühliger Interpret zeitgenössischer Kompositionen sowie als charismatischer Improvisationskünstler gemacht. Der direkte Kontakt zu Komponisten wie Stockhausen, Rihm oder Corbett inspiriert sein Spiel auf vielfältige Weise. Indem er sich ständig hinterfragt und allabendlich um neuen Zugang bemüht, schleicht sich keine Routine ein, vielmehr bleibt sein Spiel frisch und spannend.
Im Zusammenwirken mit der Violinistin Lisa Lammel wurden die fünf Sätze von Corbetts »Detroit Chronicles« zum Kino für die Ohren. Die akustische Interpretation des Niedergangs der Autometropole hatte indes auch versöhnliche Facetten, denn Wohlklang brachte die Nischen von nachbarschaftlicher Wärme in der Vorgartenidylle zum Tönen.
Erkennt Sidney Corbett, den das Studium bei György Ligeti nach Deutschland führte und die Liebe zum Bleiben animierte, Unterschiede zwischen den USA und Deutschland in der Rezeption seiner Werke? »In den USA ist Kultur eben nicht nur Kommerz, und in meiner Heimat gibt es durchaus sehr gebildete, feinsinnige Menschen, auch wenn diese in den Unterhaltungsmedien kaum eine Rolle spielen«, sagt er; möchte seine Kompositionen indes keinesfalls politisch verstanden wissen. »Ich will mit meiner Musik ja nicht die Welt verändern. Selbst projiziere ich gar nicht so viel in die Kompositionen, aber ich bin glücklich, wenn beim Hörer Bilder im Kopf entstehen.« Diese sind freilich je nach Aufführungsort sehr unterschiedlich.
Bilder hatte Corbett fraglos auch im Kopf, als ihm das Gedicht »Schneetod« von Andrej Murasov in die Hände fiel. Die Bielefelder Mezzosopranistin Edith Murasov interpretierte diese Worte ihres Sohnes in der Vertonung von Corbett mit inbrünstiger Brillanz.

Artikel vom 30.11.2005