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Indischer Mittelschicht mangelt
es nicht an Selbstvertrauen

Konferenz der Bertelsmann-Stiftung fördert den Dialog mit EuropaÊ

Von Bernhard Hertlein
Neu Delhi/Gütersloh (WB). Keine Kühe auf den Kreuzungen, Fahrradrikschas in die Altstadt verbannt. Ist das noch Delhi? Software-Schmiede der Welt. »Superstar«-Suche und »Wer wird Millionär?« im Fernsehen. Und in den Bollywood-Filmen wird jetzt ab und zu sogar geküsst. Ist das noch Indien?
In Neu Delhi sprachen Liz Mohn (l.) und Werner Weidenfeld auch mit Sonia Gandhi.

Coca Cola und McDonald's, Jeans und Popmusik: Lange hat sich Indien diesen Vorreitern der westlichen »Kultur« versperrt. Heute sind die jungen Angehörigen der indischen Mittelschicht amerikanischer als ihre meisten Altersgenossen in Deutschland. Auf einem Kulturforum der Gütersloher Bertelsmann-Stiftung in New Delhi benutzten indische Teilnehmer die alten Veden und Upanischaden allenfalls, um die nicht ausrottbare These von der historischen Vorreiterrolle Europas zu widerlegen.
Veranstaltet wurde die Konferenz nach Angaben der stellvertretenden Vorsitzenden der Stiftung, Liz Mohn, um das gegenseitige Verständnis europäischer und indischer Kultur zu fördern. »Face to face«, von Angesicht zu Angesicht, falle dies leichter. De facto behandelte das Kulturforum, bei dem Bertelsmann mit dem Rajiv-Gandhi-Institut und der Khemka-Familienstiftung zusammenarbeitete, ebenso politisch-strategische sowie wirtschaftliche und allgemein gesellschaftliche Fragen.
Eine der großen Gefahren der Globalisierung ist nach Ansicht von Prof. Werner Weidenfeld, Münchner Politikwissenschaftler und Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, der Verlust der eigenen kulturellen Identität und Basis. Jedoch gilt dies nach Ansicht des Regierungsberaters Dr. Karan Singh für die erweiterte Europäische Union mindestens so sehr wie für die Indische. Der Subkontinent habe stets viele Sprachen, mehrere Religionen und zahlreiche Kulturen vereinigt.
Schon zu Beginn der Konferenz zeigte sich: Der indischen Mittel- und Oberschicht mangelt es nicht an Selbstvertrauen. Europa sei alt geworden, wurde kritisiert. Seine wirtschaftliche Bedeutung schwinde. Die junge indische Bevölkerung - Durchschnittsalter unter 25 Jahre -Êsei dagegen heiß auf Veränderung.
Derzeit wächst die indische Wirtschaft sogar schneller als die chinesische. Bis 2020, vermutlich früher, will Indien zur drittstärksten Wirtschaftsmacht aufsteigen. Das Selbstbewusstsein, das daraus erwächst, spiegelt sich in der Einschätzung der internationalen Politik. Indien sieht sich in der angenehmen Position, zwischen mehreren Partnern wählen zu können. Dabei stehen die Briten und Amerikaner den Indern derzeit näher. Dort haben sie studiert. Dort leben Verwandte. Und außerdem hat die US-Administration unter George W. Bush weniger Probleme mit der atomaren Bewaffnung Indiens und mit der Benachteiligung ethnischer, sozialer und religiöser Minderheiten.
Es gab Zeiten, da erschienen vor allem die deutsch-indischen Beziehungen besser als heute. Es waren deutsche Indologen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die indische Vergangenheit wieder entdeckten. Während der Weimarer Republik standen Deutschland und die indische Unabhängigkeitsbewegung gemeinsam gegen die Kolonial- und Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Und von den fünfziger bis weit in die siebziger Jahre war es der Ruf des »Made in Germany«, der viele künftige indische Ingenieure und Wissenschaftler anlockte.
Der Ruf ist inzwischen so weit verblasst, dass er den Nachteil, zunächst die deutsche Sprache erlernen zu müssen, nicht mehr ausgleichen kann. Dazu kommen für die Inder Probleme mit dem deutschen Aufenthaltsrecht.
Wirtschaftlich sind die Beziehungen längst keine Einbahnstraße mehr. Indische Unternehmen engagieren sich in Europa wie umgekehrt europäische in Indien. Letztere klagen zwar über häufige Stromausfälle und über Korruption. Trotzdem erwirtschaften die meisten, wie Metro-Chef Hans-Joachim Körber jetzt in Delhi einräumte, gute Gewinne.
Die Bertelsmann-Stiftung will den mit dem Kulturforum begonnenen Dialog fortsetzen. Zudem wird Indien im kommenden Jahr 2006 unter anderem als Partnerland sowohl der Hannovermesse als auch der Frankfurter Buchmesse im Gespräch bleiben.

Artikel vom 29.11.2005