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Tränen des Dankes für die Helfer

Freiwillige aus Ostwestfalen-Lippe im Katastrophengebiet - Heiße Steine als Heizungsersatz

Von Christian Althoff und
Jörn Hannemann (Fotos)
Ochtrup (WB). Brigitte Kleine-Kathöfer drückt ihren leukämiekranken Sohn Philipp an sich und strahlt: »Endlich ist es wieder warm im Haus!« Seit drei Tagen hatte die Familie aus Ochtrup in ihrer Doppelhaushälfte gefroren, bis Feuerwehrmänner aus dem Kreis Gütersloh gestern einen Notstromgenerator in der Einfahrt aufgestellt und die Heizung angeschlossen hatten.
Im Auftrag des Energieversorgers RWE überprüfen Techniker Kabel, die eine Straße überspannen.

Notstand im Münsterland: Dort sind an diesem Montagmorgen noch immer 50 000 Menschen ohne Strom, nachdem am Freitag 50 Hochspannungsmasten des Energieversorgers RWE unter dem Druck von Schnee und Eis eingeknickt waren. Am Abend wird sich die Zahl durch Regenfälle auf vereiste Stromleitungen sogar wieder auf 90 000 erhöhen.
Am schwersten hat es Ochtrup im Kreis Steinfurt getroffen. Schneeverwehte Straßen sind gesperrt, Telefonkabel, die an Holzmasten von Bauernhof zu Bauernhof führen, hängen unter der Last des Eises dicht über dem Boden. Fernmeldesoldaten aus Unna haben ihre Allradfahrzeuge mit Antennenmasten an strategischen Punkten postiert. Sie unterstützen die Hilfsorganisationen mit dem Bundeswehr-Funknetz, weil die üblichen Verbindungen nicht ausreichen. Kerzenlicht schimmert aus vielen Häusern, und am Marktplatz dringt der fahle Schein der Notbeleuchtung aus dem Comet-Supermarkt, der seit Sonntag von einem Stromgenerator versorgt wird. »Bis dahin war die Tiefkühlkost allerdings schon hinüber«, erzählt der Marktleiter.
Uwe Theismann von der Miele-Werksfeuerwehr ist seit Sonntag mit 66 Feuerwehrmännern aus dem Kreis Gütersloh in Ochtrup. Bartstoppeln sprießen in seinem Gesicht, und er ist übermüdet. »Aber die Menschen hier brauchen uns. Dahinter tritt alles zurück«, sagt er. Theismann saß gerade in der Leitstelle der Feuerwehr Ochtrup, als der Hilferuf der Familie Kleine-Kathöfer auflief. »Wenn sich unser Sohn in unserem ausgekühlten Haus einen Infekt einfängt, kann das schlimme Folgen haben...«, erklärte die Mutter besorgt. Der Gütersloher schickte sofort zwei Kameraden mit einem Notstromaggregat los. Er bedauert, dass sich die Eltern des krebskranken Philipp erst nach drei Tagen gemeldet hatten: »Einige rufen hier an, weil sie Angst um ihr Fleisch in der Tiefkühltruhe haben, und die wirklich Hilfebedürftigen sind zu schüchtern und wollen niemandem zur Last fallen«, sagt der Feuerwehrmann kopfschüttelnd.
Gleich neben der Einsatzleitstelle liegt die Ochtruper Stadthalle. An einem der vielen Holztische, die Helfer hier aufgebaut haben, sitzen Katharina und Josef Scheipers und löffeln Erbsensuppe aus Plastiktellern. »Die Kälte zu Hause erinnert mich an den Krieg«, sagt der 88-Jährige. Jeden Abend bringen Nachbarn den Scheipers in Handtücher gewickelte Backsteine vorbei, die sie zuvor in ihrem Kachelofen aufgeheizt haben: »Damit wärmen wir unsere Füße, bevor wir ins Bett gehen«, erzählt die 83-Jährige. Die beiden Rentner nutzen zum ersten Mal die Essensausgabe in der Stadthalle: »Unser Radio funktioniert nicht. Wir haben erst heute von einem Nachbarn erfahren, dass es hier etwas Warmes gibt«, erzählt Katharina Scheipers. Am Tag zuvor hatte sie noch versucht, Suppe über Kerzen aufzuwärmen: »Das hat zwei Stunden gedauert, und richtig heiß geworden ist sie trotzdem nicht.«
Auch in der Ortschaft Gescher südwestlich von Ochtrup sind Helfer aus Ostwestfalen im Einsatz. Dort hat Bauer Georg Schulze-Efting gerade eine Kanne Kaffee für die Feuerwehrmänner aus dem Kreis Höxter aufgesetzt, die am Sonntagnachmittag einen dieselbetriebenen Generator aufgestellt hatten und jetzt vorbeigekommen sind, um nach dem Rechten zu sehen. »48 Stunden ohne Strom - das war eine Katastrophe!«, sagt der Landwirt, in dessen Ställen 140 Bullen und 650 Schweine stehen. »Der Futterautomat fiel aus, und Wasser hatten die Tiere auch nicht mehr, weil unsere Pumpe stand.« Sein Nachbar habe ihm mit einem Tankwagen Wasser gebracht, erzählt Georg Schulze-Efting. »Und dann haben meine Frau, meine drei Kinder und ich alle 800 Tiere mit Eimern getränkt. Das war Knochenarbeit.« Dramatische Folgen hatte der Ausfall der Futtermaschine im Schweinestall: »Die Tiere bekommen gewöhnlich 14 kleine Portionen über den Tag verteilt. Als wir ihnen jetzt Futtertröge hingestellt haben, haben sich alle Schweine darauf gestürzt und ums Futter gekämpft. Zwei sind dabei auf der Strecke geblieben.«
Heinrich Muhr aus Brakel leitet den Feuerwehrverband aus dem Kreis Höxter, der seit Samstag im Notstandsgebiet hilft. Geschichten wie die des Bauern Schulze-Efting hat er in den vergangenen Tagen zu Hauf gehört. »Die Not ist auf manchen Höfen so groß«, sagt Muhr, »dass uns die Menschen mit Tränen in den Augen danken.«

Artikel vom 29.11.2005