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Luis Morago

»Die ärmsten Entwicklungsländer wurden geopfert, damit Europa sich einigen kann.«

Leitartikel
EU vor dem WTO-Gipfel

Krummes Obst, bitterer Zucker


Von Bernhard Hertlein
Die Europäische Union räumt auf. Nach dem in Unordnung geratenen Kleidermarkt und der bei vielen Rübenbauern in Deutschland sauer aufgestoßenen Reform der Zuckermarkt-Ordnung lenkte die EU-Kommission gestern auch im Bananen-Streit ein. Der zunächst vorgeschlagene Zollsatz von 230 Euro je Tonne wurde auf 176 Euro reduziert.
Das Bemühen Brüssels, rechtzeitig vor dem am 13. Dezember beginnenden nächsten WTO-Gipfel in Hongkong die Rolle des Sündenbocks wieder loszuwerden, ist offensichtlich. Erfolgreich scheint es nicht zu sein. Der US-Konzern Chiquita - Werbespruch: »Nenn nie Chiquita nur Banane« - legte sich gleich nach Bekanntwerden der neuen Zollsätze krumm vor Entrüstung. Die neue EU-Regelung sei enttäuschend. Im übrigen verstoße sie gegen die geltenden WTO-Regeln -Êein Urteil, das die EU für den ursprünglichen Vorschlag eines noch höheren Zollsatzes auch schon schriftlich erhalten hat.
Die Reaktionen der Dritte-Welt-Länder auf die neue Zuckermarktordnung mussten der EU nicht weniger bitter aufstoßen. »Entwicklungsländer wurden geopfert, damit Europa sich einigen kann«, entrüstete sich Luis Morago von der renommierten Entwicklungshilfe-Organisation Oxfam. Die Zeche - Einkommenseinbußen von schlimmstenfalls einer Milliarde Euro - zahlten die Landwirte in den allerärmsten Ländern. Diese Kritik wurde in Deutschland allerdings noch übertönt vom Aufschrei der heimischen Rübenbauern: Preissenkungen von 39 Prozent führten trotz teilweisem Verlustausgleich zu Einkommenseinbußen, die für viele nicht mehr verkraftbar seien.
Brüssel, das ist klar, kann es in diesen existenziellen Fragen nicht allen recht machen. Vielleicht hätte eine frühere Annäherung an die, so EU-Handelskommissar Peter Mandelson, »extremen Forderungen« der großen Agrar-Exporteure USA, Brasilien, Australien, Neuseeland und Kanada dem scharfen Gegenwind etwas von seiner Stärke genommen.
So sieht sich Europa wieder einmal in die Ecke des Alten Kontinents gestellt, der seine Privilegien schützt und sich gegenüber dem freien Weltmarkt abkapselt. In dieser Abwehrhaltung wird Kritik an den anderen leicht als Retourkutsche verstanden. Dabei gibt es vor allem in den Industrie- und Dienstleistungssektoren durchaus noch höhere Hürden für den freien Welthandel als die einfachen Zollbarrieren. Geschieht dem US-Rechtssystem wirklich Unrecht, wenn man Teile von ihm als eine Abwehrwand für ausländische Unternehmen deutet? Dass Dumping und Plagiate »made in Asia« einem fairen Welthandel zuträglich sind, wird auch niemand ernsthaft behaupten wollen.
Trotzdem tut die EU gut daran, sich aus der Ecke des Südenbocks zu befreien. Denn so wichtig eine gesunde Landwirtschaft für eine funktionierende Gesellschaft ist: Rückschritte im freien Welthandel kann sich kein Land weniger leisten als der Export-Weltmeister Deutschland.

Artikel vom 30.11.2005