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Sie antwortete nicht sofort. Stellte ihren Kaffee ab, drehte sich eine Zigarette, steckte sie an und stieß eine lange, beruhigende Wolke aus.
»Was meinst du?«
»Ich weiß nicht«, log sie. »Ich hab keine große Lust, ohne dich hierzubleiben.«
»Dann setz ich dich am Bahnhof ab. In deinem Zustand würdest du die Fahrt eh nicht überstehen. Man friert noch mehr, wenn man müde ist.«
»Schön«, antwortete sie.

Jeannine insistierte. Doch, doch, ein Stück vom Filet, ich pack es euch ein. Sie begleitete sie bis zum Ende des Weges, nahm Franck in die Arme und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, die Camille nicht hörte.

Und als er am ersten Stoppschild vor der Nationalstraße anhielt und einen Fuß auf die Erde setzte, schob sie beide Visiere hoch:
»Ich komm mit dir.«
»Bist du sicher?«
Sie nickte mit dem Helm, und ihr Kopf fiel nach hinten. Hoppla. Plötzlich wurde das Leben ganz schnell. Okay. SeiÕs drum.
Sie schmiegte sich an ihn und biß die Zähne zusammen.

13. Kapitel
Willst du in einem Café warten?«
»Nein, nein, ich setz mich hier unten hin.«

Sie waren noch keine drei Schritte durch die Halle gegangen, als eine Dame in hellblauer Tracht auf ihn zukam. Sie betrachtete ihn und schüttelte traurig den Kopf:
»Sie fängt schon wieder an.«
Franck seufzte.
»Ist sie in ihrem Zimmer?«
»Ja, aber sie hat schon wieder alles gepackt und läßt sich nicht anfassen. Sie sitzt seit gestern abend ganz bedrückt mit ihrem Mantel auf dem Schoß da.«
»Hat sie was gegessen?«
»Nein.«
»Danke.«
Er wandte sich an Camille:
»Kann ich dir meine Sachen hierlassen?«
»Was ist denn los?«
»Es ist los, daß mich die Paulette mit ihrem Unfug langsam fertigmacht!«
Er war weiß wie ein Laken.
»Ich weiß gar nicht mal mehr, ob es so eine gute Idee war, sie zu besuchen. Ich bin völlig ratlos. Total am Ende mit meinem Latein.«
»Warum verweigert sie das Essen?«
»Weil sie glaubt, daß ich sie mitnehme, die dumme Gans! Das macht sie jedesmal mit mir. Mann, ich hätt echt Lust, mich zu verdrücken.«
»Willst du, daß ich mitkomme?«
»Das wird nix ändern.«
»Nein, das wird nichts ändern, aber das lenkt ab.«
»Meinst du?«
»Ja klar, komm schon. Gehen wir.«

Franck trat als erster ein und verkündete mit hoher Stimme:
»Omi, ich binÕs. Ich hab dir eine Überra...«
Er brachte den Satz nicht zu Ende.
Die alte Frau saß auf ihrem Bett und fixierte die Tür. Sie trug Mantel, Schuhe, Schal und hatte sogar den kleinen schwarzen Hut aufgesetzt. Ein Koffer, der nicht richtig zu war, stand zu ihren Füßen.

»Es zerreißt mir das Herz.« Noch so eine treffende Redewendung, überlegte Camille, die spürte, wie das ihre plötzlich zerbröselte.
Sie sah so niedlich aus mit ihren hellen Augen und dem spitzen Gesicht. Eine kleine Maus. Eine kleine Célestine in äußerster Bedrängnis.

Franck tat so, als wenn nichts wäre:
»Mensch! Du bist mal wieder viel zu warm angezogen!« scherzte er und zog sie schnell aus. »Dabei ist hier gut geheizt. Wie warm ist es hier drin? Mindestens fünfundzwanzig Grad. Ich habÕs ihnen unten doch schon gesagt, ich hab ihnen gesagt, daß sie zu stark heizen, aber sie hören nicht. Wir kommen geradewegs vom Schlachten bei der Jeannine, und ich kann dir sagen, sogar in dem Zimmer, wo die Würste geräuchert werden, ist es nicht so warm wie hier. Alles in Ordnung mit dir? Sag mal, eine schöne Tagesdecke hast du da! Das heißt, daß du endlich das Päckchen von deiner Bestellung bekommen hast? Wurd ja auch Zeit. Und die Strümpfe, waren die in Ordnung? Hab ich die Richtigen geholt? Ich muß ja mal sagen, daß du ganz schön undeutlich schreibst. Ich hab dagestanden wie ein Idiot, als ich die Parfümverkäuferin nach Eau de Toilette von Monsieur Michel gefragt hab. Die gute Frau hat mich ganz schief angesehen, als ich ihr den Zettel gezeigt hab. Sie mußte sogar ihre Brille holen und alles. Ich kann dir sagen, das war was, aber dann hat sie es rausgefunden: es hieß Mont-Saint-Michel. Das sollte einer ahnen, was? Hier, das ist es übrigens. Zum Glück ist es nicht kaputtgegangen.«
Er zog ihr die Hausschuhe wieder an, erzählte sinnloses Zeug, redete sich in einen Rausch, um sie nicht anschauen zu müssen.

»Sind Sie die kleine Camille?« fragte sie mit einem strahlenden Lächeln.
»Eh... ja.«
»Kommen Sie näher, damit ich Sie besser sehen kann.«
Camille setzte sich zu ihr.
Sie nahm ihre Hände:
»Sie sind ja völlig durchgefroren.«
»Das liegt an dem Motorrad.«
»Franck?«
»Ja.«
»Mach uns doch mal einen Tee! Wir müssen die Kleine wieder aufwärmen!«
Er atmete auf. Gott sei Dank. Das Schlimmste war überstanden. Er stellte seine Sachen in den Schrank und holte den Wasserkessel.
»Hol die Löffelbiskuits aus meinem Nachttisch.« Dann an Camille gewandt: »Sie sind das also. Sie sind Camille. Wie ich mich freue, Sie zu sehen.«
»Ich auch. Vielen Dank für den Schal.«
»Ach ja, genau, hier...«
Sie stand auf und kam mit einer Tasche alter Strickhefte zurück.
»Die hat Yvonne, eine Freundin, mir für Sie gegeben. Sagen Sie mir, was Ihnen gefällt. Aber kein Perlmuster! Das kann ich nicht.«
März 1984. Alles klar.

Camille blätterte langsam die verblichenen Seiten um.
»Der hier sieht doch ansprechend aus, oder?«
Paulette zeigte ihr eine fürchterlich häßliche Strickjacke mit Zopfmuster und vergoldeten Knöpfen.
»Hm, mir würde ein dicker Pullover besser gefallen.«
»Ein dicker Pullover?«
»Ja.«
»Wie dick?«
»Tja, wissen Sie, so eine Art Rollkragenpullover.«
»Dann blättern Sie weiter zu den Männern!«
»Dieser hier.«
»Franck, mein Schatz, meine Brille.«
Was war er froh, sie so reden zu hören. Gut so, Omi, weiter so. Gib mir Befehle, mach mich lächerlich vor ihr, indem du mich wie ein Baby behandelst, aber nicht flennen. Ich bitte dich. Nicht wieder flennen.

»Eh... Ich... Ich laß euch allein. Ich muß mal.«
»Ja, ja, laß uns ruhig allein.«
Er lächelte.
Was für ein Glück, Mann, was für ein Glück.

Er schloß die Tür und machte Luftsprünge im Flur. Er hätte die erstbeste Bettlägerige umarmt. Klasse, Mann! Er war nicht mehr allein. Er war nicht mehr allein! »Laß uns allein«, sagt sie zu ihm. Klar doch, Mädels, ich laß euch allein! Verflucht, was anderes will ich doch gar nicht! Was anderes will ich nicht!
Danke, Camille, danke. Auch wenn du nie wieder mitkommst, haben wir jetzt drei Monate Galgenfrist mit deinem verfluchten Pulli! Die Wolle, die Farben, die Anproben. Die Gespräche waren für einige Zeit gesichert. Wo waren noch mal die Klos?

Paulette setzte sich in ihren Sessel, und Camille lehnte sich mit dem Rücken an die Heizung.
»Geht das auf dem Boden?«
»Ja.«
»Franck setzt sich auch immer so hin.«
»Haben Sie schon einen Biskuit gegessen?«
»Vier!«
»Gut so.«

Sie sahen sich an und kommunizierten schweigend. Sie unterhielten sich über Franck, die Entfernungen, die Jugend, die verschiedenen Landstriche, den Tod, die Einsamkeit, die verstreichende Zeit, das Glück, zusammenzusein, und die Mühsal des Lebens, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen.

Camille hatte große Lust, sie zu malen. Ihr Gesicht ließ sie an die Gräser einer Böschung denken, die violetten Wildblumen, die Vergißmeinnicht, die Butterblumen. Ihr Gesicht war offen, sanft, leuchtend, fein wie japanisches Papier. Die Kummerfalten verschwanden im dampfenden Tee und machten tausend kleinen gütigen Fältchen in den Augenwinkeln Platz.
Sie fand sie schön.

Paulette dachte genau das gleiche. Sie war so anmutig, diese Kleine, so ruhig, so elegant in ihrem Vagabundenaufzug. Sie wünschte sich den Frühling herbei, um ihr den Garten zu zeigen, die blühenden Äste des Quittenbaums und den Geruch des falschen Jasmins. Nein, sie war nicht wie die anderen.
Ein Engel, der vom Himmel gefallen war und Arbeitsschuhe tragen mußte, um auf der Erde zu bleiben.

»Ist sie weg?« fragte Franck beunruhigt.
»Nein, nein, ich bin hier!« antwortete Camille und streckte den Arm über das Bett.

Paulette lächelte.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.12.2005