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Es ging nicht gut. Sie zitterte.

Als die Sirene verstummt war, steckte sie ihr Heft in die Tasche und ging näher heran. Das warÕs, es war vorbei, sie war neugierig und hielt ihr Glas zum Nachschenken hin.

Sie bearbeiteten die beiden mit dem Schneidbrenner, es roch nach verbranntem Schwein. Auch dieser Ausdruck war perfekt, traf es haargenau, wenn man so will. Dann schabten sie sie mit einer seltsamen Bürste ab: einem Holzbrett, auf das Kronkorken falsch herum aufgenagelt waren.
Camille malte das Brett.
Der Schlachter begann mit dem Schneiden, und sie stellte sich hinter die Bank, damit ihr nichts entging. Franck freute sich darüber.
»Was ist das?«
»Was denn?«
»Diese durchsichtige, klebrige Kugel da?«
»Die Blase. Es ist übrigens nicht normal, daß sie so voll ist. Das stört ihn bei der Arbeit.«
»Aber das stört mich überhaupt nicht! Hier, da isse!« fügte er hinzu und schnitt sie mit dem Messer heraus.
Camille ging in die Hocke, um sie sich genauer anzuschauen. Sie war fasziniert.

Ein paar Jungen mit Tabletts in der Hand pendelten zwischen dem noch dampfenden Schwein und der Küche.
»Hör auf zu trinken.«
»Ja, Madame Rika.«
»Ich bin zufrieden. Du hast dich tapfer gehalten.«
»Hattest du Angst?«
»Ich war gespannt. Gut, aber das war noch nicht alles, ich hab noch zu tun.«
»Wo gehst du hin?«
»Meine Sachen holen. Geh ins Warme, wenn du willst.«

Sie fand sie alle in der Küche. Eine Reihe aufgekratzter Hausfrauen mit ihren Holzbrettern und Messern.
»Komm hierher!« rief Jeannine. »Lucienne, machen Sie ihr mal Platz an der Pfanne. Meine Damen, das hier ist Francks Freundin, Sie wissen schon, von der ich vorhin gesprochen habe. Die wir gestern abend wiederbelebt haben. Komm, setz dich zu uns.«

Der Geruch von Kaffee mischte sich mit dem von heißen Innereien, es wurde viel gelacht. Viel geschnattert. Ein wahrer Hühnerstall.

Dann kam Franck. Ah! Da isser ja! Der Koch! Sie giggelten noch mehr. Als sie ihn sah, in seiner weißen Jacke, wurde Jeannine ganz betrübt.

Er ging hinter ihr vorbei zum Herd und faßte sie an der Schulter. Sie schneuzte sich in ihr Geschirrtuch und lachte wieder mit den anderen.

An diesem Punkt der Geschichte fragte sich Camille, ob sie nicht im Begriff war, sich in ihn zu verlieben. Verdammt. Das war nicht vorgesehen. Nix da, sagte sie sich und schnappte sich ein Brett. Nix da, nur weil er einen auf Dickens gemacht hatte. Sie würde ihm trotzdem nicht auf den Leim gehen.

»Haben Sie was für mich zu tun?« fragte sie.
Sie erklärten ihr, wie sie das Fleisch in ganz kleine Stücke schnitt.
»Was wird damit gemacht?«
Die Antworten ertönten von allen Seiten:
»Wurst! Würste! Kaldaunen! Pasteten! Hausmacher!«
»Und Sie, was machen Sie mit Ihrer Zahnbürste?« Sie beugte sich zu ihrer Nachbarin hinüber.
»Ich wasch die Därme.«
»Igitt.«
»Und Franck?«
»Franck wird das Gekochte machen. Die Blutwurst, die Kaldaunenwurst und die Leckereien.«
»Was für Leckereien?«
»Den Kopf, den Ringelschwanz, die Ohren, die Füße.«
Igittigitt.
Eh... Wie war das noch? Seinen Posten als Ernährungswissenschaftler trat er erst am Dienstag an, oder?

Als er mit Kartoffeln und Zwiebeln aus dem Keller kam und sah, wie sie zu ihren Nachbarinnen schielte, um zu lernen, wie man das Messer hielt, nahm er es ihr aus der Hand:
»Das faßt du nicht an. Jedem seine Aufgabe. Wenn du dir einen Finger abschneidest, bist du ganz schön angeschmiert. Jedem seine Aufgabe, sag ich. Wo ist denn dein Heft?«
Dann, an die Klatschbasen gewandt:
»Es stört euch doch nicht, wenn sie euch malt?«
»Überhaupt nicht.«
»Doch, meine Dauerwelle ist schon ganz hinüber.«
»Komm schon, Lucienne, zier dich nicht so! Wir wissen doch alle, daß du eine Perücke aufhast!«
Soviel zur Stimmung: Club Mediterrannée auf dem Bauern-hof...

Camille wusch sich die Hände und zeichnete bis zum Abend. Drinnen, draußen. Das Blut, das Aquarell. Die Hunde, die Katzen. Die Kinder, die Alten. Das Feuer, die Flaschen. Die Kittelschürzen, die Strickjacken. Unter dem Tisch die gefütterten Hausschuhe. Auf dem Tisch die abgearbeiteten Hände. Franck von hinten und ihr verzerrtes Spiegelbild in einem gewölbten Metallkessel.

Sie schenkte jeder ein Porträt, leichtes Entsetzen, und bat dann die Kinder, ihr den Hof zu zeigen, damit sie etwas Luft schnappen konnte. Und wieder nüchtern werden.
Kinder in Batman-Sweatshirts und Stiefeln von Le Chameau rannten bunt durcheinander, fingen Hühner ein, lachten sich schlapp dabei und piesackten die Hunde, indem sie mit langen Stöcken, an denen Gedärme hingen, vor ihnen herliefen...
»Bradley, spinnst du! Setz nicht den Traktor in Gang, sonst kriegst du Ärger!«
»Ich will es ihr doch nur zeigen.«
»Heißt du Bradley?«
»Ja!«
Bradley war ganz offensichtlich der Wildeste aus der Rasselbande. Er zog sich halb aus, um ihr seine Narben zu zeigen.
»Wenn man sie alle hintereinander legen würde«, prahlte er, »würde das eine Naht von 18Êcm geben.«
Camille nickte beeindruckt und malte ihm zwei Batmen: Einen fliegenden und einen im Kampf gegen die Riesenkrake.
»Wie machst du das, daß du so gut malen kannst?«
»Du kannst auch gut malen. Alle Menschen können gut malen.«

Am Abend der Festschmaus. Zweiundzwanzig um einen Tisch und Schweinefleisch bis zum Abwinken. Schwänze und Ohren brieten im Kamin, und es wurde darum gelost, auf welchem Teller sie landen würden. Franck hatte sich selbst übertroffen, brachte zunächst eine gallertartige Suppe auf den Tisch, die sehr würzig roch. Camille tunkte ihr Brot hinein, fischte aber nicht in der Tiefe, dann kamen die Blutwurst, die Füße, die Zunge, der Rest sei ausgespart... Sie schob ihren Stuhl ein paar Zentimeter zurück und täuschte die Gesellschaft, indem sie ihr Glas dem Meistbietenden hinhielt. Danach kamen die Desserts an die Reihe, jede hatte eine Obsttorte oder einen anderen Kuchen mitgebracht, und schließlich der Schnaps.
»Ah... das hier müssen Sie probieren, Mademoiselle. Die Pimpernellen, die sich weigern, bleiben Jungfrau.«
»Na gut. Aber nur einen kleinen Schluck.«
Unter dem gewitzten Blick ihres Nachbarn, der nur noch anderthalb Zähne hatte, sicherte sich Camille ihre Entjungferung und nutzte die allgemeine Verwirrung, um schlafen zu gehen.
Sie fiel wie ein Stein ins Bett und wurde von dem fröhlichen Lärm, der durch den Dielenboden drang, sanft in den Schlaf gewiegt.

Sie schlief schon tief und fest, als er sich an sie kuschelte. Sie grunzte.
»Mach dir keine Sorgen, ich bin viel zu besoffen, ich tu dir nix«, murmelte er.

Da sie ihm den Rücken zukehrte, schob er seine Nase in ihren Nacken und legte einen Arm um sie, um sich so eng wie möglich an sie zu schmiegen. Ihre kurzen Haare kitzelten ihn in der Nase.
»Camille?«
Schlief sie? Tat sie nur so? Keine Antwort jedenfalls.
»Ich bin gern mit dir zusammen.«
Leises Lächeln.
Träumte sie? Schlief sie? Wer weiß?

Als sie am Mittag endlich erwachten, lagen sie in ihren jeweiligen Betten. Sie verloren kein Wort darüber.
Kater, Verwirrung, Müdigkeit, sie hievten die Matratze wieder an ihren Platz, legten die Bettwäsche zusammen, gingen nacheinander ins Bad und zogen sich schweigend an.

Die Treppe kam ihnen halsbrecherisch vor, und Jeannine hielt beiden wortlos einen schwarzen Kaffee hin. Zwei weitere Frauen saßen schon am Tischende und planschten im Wurstbrät. Camille drehte ihren Stuhl zum Kamin und trank ihren Kaffee, ohne an etwas zu denken. Ganz offensichtlich war der Schnaps zuviel des Guten gewesen, und sie schloß zwischen jedem Schluck die Augen. Pah! Das war der Preis dafür, daß sie kein kleines Mädchen mehr war...

Bei den Gerüchen aus der Küche drehte sich ihr der Magen um. Sie stand auf, schenkte sich nach, steckte ihren Tabak in die Manteltasche und setzte sich in den Hof auf die Schlachtbank der Schweine.
Franck gesellte sich kurz darauf zu ihr.
»Darf ich?«
Sie rückte zur Seite.
»Tut dir die Birne weh?«
Sie nickte.
»Übrigens, ich... ich muß noch bei meiner Großmutter vorbei. Es gibt also drei Möglichkeiten: Entweder ich laß dich hier und hol dich am Nachmittag wieder ab, oder ich nehm dich mit und du wartest irgendwo auf mich, solange ich mit ihr plaudere, oder ich setz dich unterwegs am Bahnhof ab und du fährst allein nach Paris zurück.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.12.2005