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Hast du sie nie wiedergesehen?«
»Camille, ich sag dir doch, hör auf. Sonst fühlst du dich hinterher nur verpflichtet, mich in den Arm zu nehmen.«
»Doch. Erzähl weiter. Das Risiko nehme ich gern in Kauf.«
»Lügnerin.«
»Hast du sie nie wiedergesehen?«
»...«
»Entschuldige bitte. Ich hör auf.«

Sie hörte, wie er sich umdrehte:
»Ich... Bis ich zehn war, hab ich nix von ihr gehört. Das heißt, doch, am Geburtstag und an Weihnachten gabĂ•s immer ein Geschenk, aber später hab ich erfahren, daß das nur Schmu war. Noch so ein Trick, der mich verwirren sollte. Ein netter Trick zwar, aber trotzdem ein Trick. Sie hat uns nie geschrieben, aber ich weiß, daß meine Omi ihr jedes Jahr mein Schulfoto geschickt hat. Und irgendwann, weiß der Himmel - vielleicht sah ich darauf süßer aus als sonst? Vielleicht hat mich der Lehrer an dem Tag noch mal gekämmt? Oder der Fotograf hat eine Micky-Maus-Figur gezückt, um mich zum Lachen zu bringen? Egal wie, der kleine Junge auf dem Foto hat Sehnsüchte in ihr geweckt, und sie hat sich angekündigt, um mich zu holen. Ich erzähl dir nicht, was das für ein Aufstand war. Ich hab geschrien, um bei meiner Omi bleiben zu dürfen, die mich getröstet hat und immer wieder gesagt hat, wie toll es doch wär, daß ich jetzt endlich eine richtige Familie hätte, und die noch mehr geflennt hat als ich und mich an ihren großen Busen gedrückt hat. Mein Opa hat gar nix mehr gesagt. Nein, das erzähl ich nicht. Du bist schlau genug, dir das vorstellen zu können, oder? Aber glaub mir, es war heftig.
Nachdem sie uns mehrmals versetzt hatte, war sie gekommen. Ich bin in ihr Auto gestiegen. Sie hat mir ihren Mann gezeigt, ihr anderes Kind und mein neues Bett.
Am Anfang hat es mir saugut gefallen, in einem Etagenbett zu schlafen, aber abends hab ich geflennt. Ich hab ihr gesagt, daß ich wieder nach Hause will. Sie hat mir geantwortet, daß das hier mein Zuhause ist und daß ich ruhig sein soll, um den Kleinen nicht zu wecken. In der gleichen Nacht und in all den anderen hab ich ins Bett gemacht. Das hat sie genervt. Sie hat gesagt: Ich bin mir sicher, du machst das extra. Dein Pech, dann bleibst du halt im Nassen liegen. Alles wegen deiner Großmutter, die hat dir den Charakter verdorben. Danach bin ich verrückt geworden.
Bis dahin hatte ich auf dem Land gelebt, bin jeden Abend nach der Schule angeln gewesen, im Winter hat mich mein Großvater mitgenommen, zum Pilzesuchen, auf die Jagd, in die Kneipe. Ich war immer draußen, immer in Stiefeln, immer bereit, mein Fahrrad irgendwo hinzuschmeißen, um von den Wilderern zu lernen, und plötzlich war ich in einem beschissenen Plattenbau in einem Scheiß-Pariser Vorort, eingepfercht zwischen vier Wänden, einem Fernseher und einem anderen Balg, das die ganze Zärtlichkeit bekam. Da ist bei mir die Sicherung durchgebrannt. Ich hab... Nein... Spielt keine Rolle. Drei Monate später hat sie mich in den Zug gesetzt und mir immer wieder vorgesagt, daß ich alles kaputtgemacht hätte.
Du hast alles kaputtgemacht, du hast alles kaputtgemacht. Als ich zu meinem Großvater in den Simca gestiegen bin, hat das in meinem kleinen Kopf immer noch nachgeklungen. Und das schlimmste, weißt du, ist, daß...«
»Was?«
»Daß sie in mir was kaputtgemacht hat, diese Hexe. Danach war es nie wieder so wie früher. Ich war kein Kind mehr, ich wollte ihre Hätscheleien und den ganzen Mist nicht mehr. Das Schlimmste, was sie angerichtet hat, war nicht mal, daß sie mich wieder zu sich genommen hat, das Schlimmste waren die ganzen Horrorgeschichten, die sie mir über meine Großmutter erzählt hat, bevor sie mich ein zweites Mal abgegeben hat. Wie sie mich fertiggemacht hat mit ihren Lügenmärchen. Von wegen, ihre Mutter hätte sie gezwungen, mich zurückzulassen, bevor sie sie vor die Tür gesetzt hätte. Daß sie selbst alles dafür getan hätte, um mich zu behalten, daß sie ihr aber mit dem Gewehr gedroht hätten und all so was.«
»Das stimmte überhaupt nicht?«
»Natürlich nicht. Aber das wußte ich damals nicht. Ich hab nichts mehr kapiert, und außerdem, vielleicht wollt ich ihr auch glauben? Vielleicht paßte mir auch die Vorstellung ganz gut, wir wären mit Gewalt getrennt worden, und hätte mein Großvater nicht die Flinte geholt, dann hätte ich das gleiche Leben gehabt wie alle anderen, und kein Mensch hätte meine Mutter hinter der Kirche eine Nutte genannt. Deine Mutter ist eine Nutte, haben sie gesagt, und du bist ein Bastard. Wörter, die ich gar nicht verstanden hab. Für mich war ein Bastard ein Hund. Ein richtiger Banause war ich.«
»Und dann?«
»Anschließend bin ich richtig fies geworden. Ich hab alles mögliche gemacht, um mich zu rächen. Um sie dafür bluten zu lassen, daß sie mir meine liebe Mama weggenommen hatten.«
Er lachte.
»Mit Erfolg. Ich hab die Gauloises von meinem Opa geraucht, Geld aus dem Haushaltsportemonnaie genommen, bei den Lehrern den Aufstand geprobt, bin von der Schule geflogen und hab die meiste Zeit auf meinem Mofa oder in den Hinterzimmern der Kneipen verbracht, Sachen ausgeheckt und Mädchen begrapscht. Nur Vogelscheuchen. Das kannst du dir nicht vorstellen. Ich war der Bandenführer. Der Beste. Der König der Rotznasen.«
»Und dann?«
»Dann ab ins Heiabettchen. Fortsetzung folgt...«

12. Kapitel
Hoch mit dir, du Michelin-Männchen!«
Er stellte das Tablett neben die Matratze.
»Oh! Frühstück im B...«
»Nur nicht zuviel Begeisterung. Das ist nicht von mir, sondern von Jeannine. Auf, beeil dich, wir sind spät dran. Und iß wenigstens eine Scheibe Brot, verschaff dir eine Grundlage, sonst wirst du dafür büßen.«
Kaum hatte sie einen Fuß nach draußen gestreckt, ihr war noch leicht übel vom Milchkaffee, da wurde ihr auch schon ein Glas Weißwein gereicht.
»Los, junge Frau! Ein bißchen Mut antrinken!«
Sie waren alle da, die von gestern abend und die Leute aus dem Dorf, alles in allem gut fünfzehn Personen, von der TV-Familie bis zum Pauschalreise-Katalog. Die Älteren in Kittelschürze, die Jüngeren im Trainingsanzug. Sie stampften mit den Füßen, das Glas fest in der Hand, riefen einander Dinge zu, lachten und verstummten plötzlich: Soeben war Gaston mit seinem großen Messer eingetroffen.
»Das ist der Schlachter.«
»Hab ich mir schon gedacht.«
»Hast du seine Hände gesehen?«
»Beeindruckend.«
»Heut werden zwei Schweine geschlachtet. Und die sind nicht blöd, die haben heut morgen nix zu futtern gekriegt und wissen jetzt also, daß es ihnen an den Kragen geht. Das riechen die. Da ist schon das erste. Hast du dein Heft?«
»Ja, ja.«
Camille zuckte unweigerlich zusammen. So groß hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Sie führten es in den Hof, Gaston zog ihm mit dem Knüppel eins über, dann wurde es auf die Bank gelegt und in Windeseile festgebunden, wobei der Kopf nach unten hing. Bis dahin ging es noch, weil das Tier ein wenig benommen war, doch als Gaston ihm mit der Klinge die Halsschlagader durchtrennte, ein Graus. Es sah nicht so aus, als hätte er es getötet, eher zum Leben erweckt. Alle Männer auf ihm, das spritzende Blut, die Oma, die einen Topf drunterstellte und die Ärmel hochkrempelte, um darin herumzurühren. Ohne Löffel, ohne alles, mit der nackten Hand. Würg. Aber auch das ging noch, wirklich unerträglich war, es zu hören. Wie es immer lauter brüllte. Je mehr Blut abfloß, um so mehr schrie es, und je mehr es schrie, um so weniger hörte es sich an wie ein Tier. Es klang fast menschlich. Ein Röcheln, ein Flehen. Camille krallte sich an ihrem Heft fest, und den anderen, die das alles in- und auswendig kannten, ging es nicht wirklich besser. Na! Noch einen Becher zum Durchhalten?
»Wirklich nicht, danke.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Malst du nicht?«
»Nein.«

Camille, die nicht auf den Kopf gefallen war, nahm sich zusammen und gab keinen blöden Kommentar ab. Für sie kam das Schlimmste noch. In ihren Augen war das Schlimmste nicht der Tod als solcher. Nein, so war halt das Leben. Was ihr jedoch am grausamsten vorkam, war das Herbeiführen des zweiten. Vermenschlichung hin oder her, Empfindsamkeit hin oder her, da konnte man sagen, was man wollte, es war ihr egal, es fiel ihr wirklich schwer, ihre Gefühle zu beherrschen. Denn das andere, das alles mitgehört hatte, wußte, was sein Kumpel gerade durchgemacht hatte, und wartete nicht darauf, durchbohrt zu werden, um wie am Spieß zu brüllen. Wo-bei... »wie am Spieß«... was für ein dämlicher Ausdruck, eher wie ein abgestochenes Schwein.
»Scheiße, sie hätten ihm wenigstens die Ohren zustopfen können!«
»Mit Petersilie?« fragte Franck und lachte sich einen.
Und jetzt, ja, jetzt zeichnete sie, um nicht noch mehr zu sehen. Sie konzentrierte sich auf Gastons Hände, um nichts mehr zu hören.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.12.2005