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Frösteln im Kerzenschimmer

30 000 Menschen in Lübbecke nach Stromausfall ohne Heizung und Licht

Von Christian Althoff und
Jörn Hannemann (Fotos)
Lübbecke (WB). Eine rote Kerze beleuchtet den Funktisch, an dem Oberkommissar Bernhard Bittner die Stellung hält. »Uns geht es auch nicht viel besser als den Menschen da draußen«, sagt der Polizeibeamte, der an diesem Freitagabend Dienst in Lübbecke schiebt, in einer jener sechs Städte im Kreis Minden-Lübbecke, die seit 17 Uhr keinen Strom mehr haben.

Die Stadt ist schwarz. Fünf Tage vor Neumond hat nicht einmal der Erdtrabant die Kraft, den Schnee am Straßenrand aufzuhellen. Nur das Krankenhaus, das am Nordhang des Wiehengebieges liegt und von Notstromgeneratoren versorgt wird, thront wie ein fahl schimmernder Leuchtturm über der dunklen Stadt.
Vor einem Hochhaus am Rande der City drücken sich Melanie (12) und Sabrina (13) in eine Nische und frösteln. Sie haben ihre Kragen hochgeschlagen und treten von einem Fuß auf den anderen. »Die Klingel funktioniert nicht. Unsere Eltern wissen nicht, dass wir hier unten stehen«, erzählen die Mädchen und blicken hoch zum vierten Stock, wo schwacher Kerzenschimmer hinter den Gardinen zu erkennen ist.
Im Nachbarhaus hat Nicole Lüdeking (26) gerade mit viel Mühe ihre Kinder Danny (4) und Jennifer (2) in den Schlaf bekommen: »Die hatten Angst, als es plötzlich dunkel wurde, und Danny sagte: Jetzt kommen die Geister!« Statt warmen Breis gab es auch für die jüngste Tochter Pizzareste vom Mittag zum Abendbrot, dann kuschelte sich die Mutter mit den beiden ins Bett, bis sie eingschlafen waren.
Jetzt sitzt Nicole Lüdeking beim Schein von acht Kerzen im Wohnzimmer und strickt einen Pullover für die Jüngste. Die 26-Jährige hat sich eine dicke Strickjacke umgehängt: »Die Heizung funktioniert nicht mehr. Es ist ganz schön ungemütlich«, sagt sie. Vor einer Stunde hatte sie noch versucht, die Freundin ihres Bruders in Rahden anzurufen, um sich nach deren neun Monate alten Sohn zu erkundigen. »Aber mein Telefon ging nicht.« Später wird Nicole Lüdeking erfahren, dass ihr Bruder und seine Freundin schon bei den ersten Stromschwankungen Wasser abgekocht und in Thermoskannen gefüllt hatten, um auch ohne Strom Babybrei für den kleinen Niklas anrühren zu können.
Ein paar Straßen weiter hat Thomas Brachmann gerade eine Handvoll Teelichter angezündet und in seiner Aral-Tankstelle verteilt: »Um Einbrecher und Räuber abzuschrecken.« Um 17 Uhr waren die Pumpen in den Zapfsäulen stehengeblieben, seitdem gibt es in Lübbecke kein Benzin mehr zu kaufen. Die größten Sorgen machen dem 45-Jährigen die Pizzen in der Tiefkühltheke. Allerdings hat der eisige Novemberwind den Verkaufsraum bereits auf zwölf Grad auskühlen lassen. Das lässt den Tankwart für seine Tiefkühlkost hoffen - auch wenn es ihn fröstelt. Thomas Brachmann ahnt nicht, dass er in ein paar Stunden entschädigt werden wird: Weil Marktkauf bereits um 18 Uhr schließen musste, werden in dieser Nacht noch Kunden in der Tankstelle Schlange stehen, um sich mit Bergen von Lebensmitteln und Getränken zu versorgen.
Mit Blaulicht und Martinshorn rollt wenig später ein Notarztwagen im Schneetreiben vor eine Kinderarztpraxis in der Fußgängerzone. Dort müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben, wie Willy Teichrib erzählt, der gerade mit seiner Frau Irene und den Kindern Elly und Finn aus der Praxis kommt: »Ein kleines Kind hat keine Luft mehr bekommen. Die Sprechstundenhilfe hat wie verrückt immer wieder die 112 gewählt, bis sie endlich eine Verbindung bekam.« Elly und Finn, die an Husten leiden, können an diesem Abend in der stockdunklen Arztpraxis nicht mehr versorgt werden: »Wir werden wohl nach Minden fahren müssen«, sagt Willy Teichrib.
Ganz gut getroffen hat es noch Polizeioberkommissar Bittner. Die Funkverbindung zur Leitstelle nach Minden, die zunächst unterbrochen war, funktioniert wieder, und der alte Notstromgenerator hält zumindest die Heizung der Polizeiinspektion am Leben - wenn der Strom auch kaum für die Beleuchtung ausreicht. »Ich wünschte, ich könnte den Menschen mehr helfen. Aber ich weiß ja auch nicht, wie lange der Blackout noch dauert«, sagt der Beamte. Aber was soll er auch jenem Rentner aus Stemwede antworten, der nach vielen Versuchen endlich auf der Notrufleitung durchgekommen ist und nun wissen möchte, wie lange die Lebensmittel in seinem stromlosen Kühlschrank noch frisch bleiben?

Artikel vom 28.11.2005