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Warte, ich helf dir. Komm, streck mir die Füße hin.«
Er zog ihr die Schuhe aus und ihre drei Paar Socken.
»So istÕs gut. Komm schon. Und jetzt oben.«
Sie war so verkrampft, daß er seine liebe Mühe hatte, ihre Arme aus den Ärmeln zu schälen. »So, wir machen das schon, du kleiner Eisklumpen.«

»Gute Güte! So gebt ihr doch was Warmes!« hörte sie die Versammlung rufen.

Sie war die große Attraktion.
Oder: Wie man eine Pariserin auftaut, ohne daß sie dabei kaputtgeht.

»Ich hätte heiße Nierchen fertig!« rief Jeannine.
Anflug von Panik am Kamin. Franck rettete sie aus der Situation:
»Nein, nein, laßt mich nur machen. Hier gibtÕs doch bestimmt irgendwo Õne Bouillon, oder?« fragte er und hob alle Deckel hoch.
»Das ist das Huhn von gestern.«
»Perfekt. Ich kümmer mich drum. Gebt ihr in der Zwischenzeit was zu trinken.«

Während sie langsam die Brühe löffelte, nahmen ihre Wangen wieder Farbe an.
»Besser jetzt?«
Sie nickte.

»Was ist?«
»Ich sagte, es ist das zweite Mal, daß du mir die beste Bouillon der Welt machst...«
»Ich mach dir auch noch mehr, wenn du willst. Kommst du zu uns an den Tisch?«
»Kann ich noch ein bißchen am Kamin bleiben?«
»Natürlich!« bekräftigten die anderen, »laß sie nur! Wir werden sie wie Schinken räuchern!«
Franck erhob sich widerwillig.
»Kannst du deine Finger bewegen?«
»Eh... ja.«
»Dann mußt du malen. Ich bin gern bereit, für dich zu kochen, aber du mußt malen. Du darfst nie aufhören zu malen, verstanden?«
»Jetzt?«
»Nein, nicht jetzt, aber sonst.«
Sie schloß die Augen.
»Einverstanden.«
»Gut, ich setz mich rüber. Gib mir dein Glas, ich schenk dir noch was ein.«
Camille taute nach und nach auf. Als sie sich zu ihnen gesellte, waren ihre Wangen feuerrot.

Sie folgte ihrer Unterhaltung, ohne etwas zu verstehen, und betrachtete voller Glückseligkeit die herrlichen Gesichter.


»Gut. Die letzte Runde Schnaps jetzt und ab in die Falle! Morgen müssen wir früh raus, Kinder! Der Gaston kommt um sieben.«
Alle standen auf.
»Wer ist Gaston?«
»Der Schlachter«, flüsterte Franck, »das ist ein Typ. Du wirst schon sehen.«

»Also, ihr seid hier...« erklärte Jeannine, »das Bad ist gegenüber, ich hab euch saubere Handtücher auf den Tisch gelegt. Alles in Ordnung?«
»Klasse«, antwortete Franck, »klasse. Danke.«
»Bedank dich nicht, mein Junge, wir freuen uns riesig, dich zu sehen, das weißt du doch. Und die Paulette?«
Er sah zu Boden.
»Gut, gut, lassen wir das«, sagte sie und drückte ihm den Arm, »wird schon wieder.«
»Sie würden sie nicht wiedererkennen, Jeannine.«
»Lassen wir das, sag ich doch. Du bist hier im Urlaub.«

Als sie die Tür geschlossen hatte, sagte Camille beunruhigt:
»He! Hier ist ja nur ein Bett.«
»Natürlich ist hier nur ein Bett. Wir sind hier auf dem Land und nicht im Ibis!«
»Hast du ihnen gesagt, daß wir zusammen sind?« schimpfte sie.
»Nix da! Ich hab nur gesagt, daß ich ein Mädchen mitbringe, mehr nicht!«
»Na klar...«
»Was na klar?« ereiferte er sich.
»Ein Mädchen heißt eine Frau, mit der du was hast. Worauf hab ich mich da nur eingelassen?«
»Du kannst einen aber auch echt nerven!«
Er setzte sich aufs Bett, während sie ihre Sachen raussuchte.

»Es ist das erste Mal...«
»Pardon?«
»Es ist das erste Mal, daß ich jemanden hierher mitbringe.«
»Das kann ich mir denken. Schweineschlachten ist nicht grad das, womit man ein Mädchen am ehesten rumkriegt.«
»Das hat mit dem Schlachten nix zu tun. Das hat überhaupt nix mit dir zu tun. Das hat...«
»Was denn?«

Franck legte sich quer aufs Bett und sprach zur Decke:
»Jeannine und Jean-Pierre, die beiden hatten einen Sohn. Frédéric. Ein prima Kerl. Mein Kumpel. Der einzige, den ich je hatte, übrigens. Wir waren zusammen auf der Hotelfachschule, und ohne ihn wär ich heut nicht hier. Ich weiß nicht, wo ich dann wär, aber, egal. Er ist vor zehn Jahren gestorben. Bei einem Autounfall. War nicht mal schuld. Irgendein Blödmann hat das Stoppschild übersehen. Tja, so ist das, ich bin natürlich nicht Fred, aber es ist so ähnlich. Ich komm jedes Jahr. Das Schlachten ist nur ein Vorwand. Sie sehen mich, und was sehen sie? Erinnerungen, Wörter und das Gesicht ihres Jungen, der noch keine zwanzig war. Die Jeannine faßt mich dauernd an, begrapscht mich ständig. Warum macht sie das wohl? Weil ich der Beweis dafür bin, daß es ihn noch gibt. Ich bin sicher, sie hat uns ihre schönste Bettwäsche aufgezogen und hält sich jetzt grad am Treppengeländer fest.«
»Ist das hier sein Zimmer?«
»Nein. Sein Zimmer ist verschlossen.«
»Und warum hast du mich mitgenommen?«
»Das hab ich dir doch gesagt, damit du malst, und außerdem...«
»Und außerdem?«
»Ich weiß nicht, mir war danach.«

Er schüttelte sich.

»Und mit dem Bett, das ist kein Problem. Wir legen die Matratze auf den Boden, und ich schlaf auf dem Lattenrost. Meinst du, das geht, Prinzessin?«
»Das geht.«
»Hast du Shrek gesehen? Den Zeichentrickfilm?«
»Nein, warum?«
»Weil du mich an die Prinzessin Fiona erinnerst. Mit weniger Kurven natürlich...«
»Natürlich.«
»Los. Hilfst du mir? Diese Matratzen wiegen eine Tonne.«
»Du hast recht«, stöhnte sie. »Was ist denn da drin?«
»Generationen vor Müdigkeit tot umgefallener Bauern.«
»Witzig.«

»Ziehst du dich nicht aus?«
»Eh, doch. Ich bin schon im Schlafanzug!«
»Behältst du deinen Pulli und die Socken an?«
»Ja.«
»Kann ich das Licht ausmachen?«
»Von mir aus!«

»Schläfst du?« fragte sie nach einer Weile.
»Nein.«
»Woran denkst du?«
»An nichts.«
»An deine Kindheit?«
»Vielleicht. Also an nichts, sag ich doch.«
»War deine Kindheit denn nichts?«
»Nichts Dolles jedenfalls.«
»Warum nicht?«
»Oh, Mann. Wenn wir damit anfangen, sind wir morgen früh noch dabei.«

»Franck?«
»Ja.«
»Was hat deine Großmutter eigentlich?«
»Sie ist alt. Sie ist ganz allein. Ihr Leben lang hat sie in einem schönen großen Bett geschlafen, so einem wie diesem hier, mit einer Wollmatratze und einem Kruzifix über dem Kopf, und jetzt siecht sie in so Õner Art Eisenkäfig dahin.«
»Ist sie im Krankenhaus?«
»Nee, im Altenheim.«

»Camille?«
»Ja?«
»Hast du die Augen offen?«
»Ja.«
»Merkst du, wie schwarz die Nacht hier ist? Wie schön der Mond ist? Wie die Sterne leuchten? Hörst du das Haus? Die Rohre, das Holz, die Schränke, die Uhr, das Kaminfeuer unten, die Vögel, die Tiere, den Wind. Hörst du das?«
»Ja.«
»Tja, sie... sie hört das alles nicht mehr. Ihr Zimmer geht auf einen Parkplatz, der rund um die Uhr erleuchtet ist, sie hört die Metallwägelchen, die Unterhaltungen der Schwesternhelferinnen, ihre röchelnden Nachbarn und die Fernseher, die die ganze Nacht durchlaufen. Und... Und sie krepiert daran.«
»Und deine Eltern? Können die sich nicht um sie kümmern?«
»Ach, Camille.«
»Was denn?«
»Bring mich nicht auf das Thema. Schlaf jetzt.«
»Ich bin nicht müde.«

»Franck?«
»Was denn noch?«
»Wo sind deine Eltern?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll das heißen, keine Ahnung?«
»Ich hab keine.«
»...«
»Meinen Vater hab ich nie gekannt. Und meine Mutter, eh...«
»Ja?«
»Ach nix...«
»Was nix?«
»Na ja, sie wollt ihn nicht.«
»Den Kerl?«
»Nee, den Kleinen.«
»Hat deine Großmutter dich aufgezogen?«
»Meine Großmutter und mein Großvater.«
»Und er ist tot?«
»Ja.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.12.2005