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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Nach dem Kriege brannten in der Adventszeit kaum Lichter. Fast unbeleuchtet waren die Straßen, und Weihnachtsmärkte gab es nicht. Selbst als sich nach der Währungsreform die Geschäfte wieder mit Waren füllten, sollte es noch eine ganze Zeit still und bescheiden bleiben. Zwar tauchten zwischen den Ruinen die ersten Stände auf, und an einigen Ecken roch es bereits nach Bratwurst. Doch vieles, das es wieder zu kaufen gab, war für die meisten unerschwinglich und blieb im Bereich der unerfüllbaren Träume.
Advent - das war der Adventskranz zu Hause, auf dem die einzelnen Kerzen nicht eher angesteckt wurden, als sie an der Reihe waren. Advent war der alte Adventskalender, jedes Jahr wieder hervorgeholt, um Tag für Tag ein Türchen daran zu öffnen, mehr nicht. Das waren die Plätzchen, für Weihnachten gebacken und bis dahin verschlossen. Das war das Lied »Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See, weihnachtlich glänzet der Wald; freue dich, Christkind kommt bald«. Advent - das war Wartezeit, für Kinder schier endlos gedehnt. Aber dann kam Weihnachten wirklich: ein strahlendes Fest, das alles andere überbot. Sehr viel bescheidener zwar als heute, trotzdem ließ es alles übrige verblassen.
Heute dagegen sieht es aus, als würde Weihnachten wochenlang gefeiert, ununterbrochen. Ein Lichtermeer von Anfang an und ohne Ende, Weihnachtslieder aus allen Lautsprechern, Weihnachtsbäume im Lichterglanz, soweit das Auge reicht. Doch keine Frage: Der Einzelhandel braucht das Weihnachtsgeschäft dringend, um zu existieren. Auch soll die Vergangenheit nicht nostalgisch verklärt werden. Es gab in ihr Probleme genug. Die vielen Lichter haben übrigens, wo sie dezent bleiben, durchaus ihre Poesie und machen den Advent auf ihre Weise zu etwas Besonderem.
Aber all das spiegelt doch auch ein Lebensmodell, das zu hinterfragen ist: Nicht wenige leben, als müßten sie alles auf einmal haben oder könnten dauernd etwas versäumen und verpassen. Auf diese Weise jedoch entgeht ihnen womöglich, worauf es wirklich ankommt, oder sie übersehen es und bekommen es einfach nicht mit.
Denn der Advent ist seinem Wesen nach eine Zeit des Wartens. Er spiegelt die Erfahrung, daß Möglichkeiten noch schlummern. Er hält die Ahnung davon lebendig, daß es im Leben wichtige Punkte gibt, die jedoch ihre Zeit brauchen, bis die Zeit für sie reif ist. Es geschieht eben nicht alles sofort und auf der Stelle.
Advent - das ist die Hoffnung: Gott selbst kommt zu mir. Zwar kann in bestimmten Phasen durchaus der Eindruck entstehen, er sei ferngerückt, sein Wort sei nicht mehr vital, sondern verbraucht, verblaßt und wie mit kaum noch lesbarer Tinte auf ein vergilbtes Blatt Papier geschrieben. Traurigkeit und Sorgen können alle Sinne gefangennehmen, so daß einem Menschen alles andere darüber entgeht, ihm sonst nichts mehr einleuchtet und nichts ihn erleuchtet. Niemand braucht sich dessen zu schämen. daß es solche Perioden in seinem Leben gibt. Aber - und das ist ungleich wichtiger - niemand braucht die Hoffnung aufzugeben, daß Gott auch zu ihm wieder kommt mit seiner Gnade und Güte, mit seinem Trost und mit seinem Segen. Denn er ist ja schon gekommen. Er hat sogar menschliche Gestalt angenommen in Jesus Christus, um einem jeden zu zeigen: Du bist mir wichtig - auch wenn du es jetzt nicht richtig glauben kannst.
Ist das nicht auch bekannt: Unscheinbar und unbemerkt erst keimt aus Niedergeschlagenheit Zuversicht, wachsen aus Leid und Trauer Lebensbejahung und Neugier auf noch unerschlossene Wege. Denn der Advent ist auch ein Sinnbild dessen, was an keine Zeit des Kirchenjahres gebunden ist: Gott hat uns mit einem so großen Vorrat an Hoffnung und Vertrauen ausgestattet, daß wir damit den Engpässen des Daseins standzuhalten vermögen und sogar an Lebensfrische, an Freude und Elan hinzugewinnen können.

Artikel vom 26.11.2005