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Fräulein Lotta
wählte allein
die Bücher aus

Bielefelds Bibliothek wird 100 Jahre

Von Burgit Hörttrich
Bielefeld (WB). Nur Bibliothekarin Lotta Steinhaus wusste, welche Bücher für wen geeignet waren. Wer 1905 in der Öffentlichen Bücherei Bielefeld Jules Verne, Peter Rosegger, die Marlitt oder gar Thomas Mann ausleihen wollte, der wurde nicht etwa freundlich bedient, sondern mitunter darauf hingewiesen, dass er (oder sie) für die gewünschte Lektüre schlicht nicht reif genug sei.

Am 1. Dezember 1905, vor nunmehr 100 Jahren, wurde die Öffentliche Bücherei Bielefeld, Vorgängerin der heutigen Stadtbibliothek, mit 3000 Bänden in dem Gebäude eröffnet, das heute das Theater am Alten Markt beherbergt. Gefeiert wird auch am 1. Dezember 2005: Um 20 Uhr findet ein Jubiläumsabend mit dem satirischen Schriftsteller Robert Gernhardt statt.
Bereits 1898 hatte am Niederwall 5 die Lesehalle und Volksbibliothek in den Räumen des Volkskaffeehauses eröffnet. Das Lesen dort wurde zwar gern gesehen, vor allem aber sollte »das Volk« abgehalten werden, Branntwein zu trinken. Harald Pilzer, Leiter der Stadtbibliothek: »Die Lesehalle war ein Ort, an dem man sich ohne Verzehrzwang aufhalten konnte.«
Aber erst mit der Eröffnung der Öffentlichen Bücherei wurde das Bücherleihen professionell betreut. Das erste gedruckte Bücherverzeichnis hatte 98 Seiten - 13 davon waren geschichtlichen Büchern gewidmet, aber nur sieben naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen, ganze zwei fremdsprachigen Büchern. Immerhin waren 1906 bereits 1196 Leser registriert.
1913 übernahm die Stadt die Bücherei, in den nächsten 20 Jahren wuchs der Bestand auf 60 000 Bände. Von 1933 an gab es eine »schwarze Liste des auszumerzenden Schrifttums«: Bücher, die nicht mehr verliehen werden durften. Klaus-Georg Loest, stellvertretender Leiter der Stadtbibliothek: »Von Bücherverbrennungen wie in anderen Städten ist aus Bielefeld nichts bekannt.« Beim Bombenangriff im September 1944 wurde die Stadtbücherei am Alten Markt jedoch schwer beschädigt, von 66 000 Bänden wurden 40 000 vernichtet; ebenfalls 1944 wurde die Filiale in Schildesche zerstört. Nach Kriegsende kam es zu so genannten Bestandssäuberungen. Bielefeld wurde eine der 18 Verwahrbibliotheken in Nordrhein-Westfalen - noch heute gibt es im Magazin rund 6000 Bücher »nationalsozialistischen und militärischen Charakters«, die, so Loest »nicht ausleihbar« sind: »Nur für rein wissenschaftliche Zwecke.«
Für den Leihbetrieb neu eröffnet wurde die Bibliothek erst wieder 1947 im Haus Werther Straße 3, Zweigbüchereien kamen hinzu, 1969 zog die Bibliothek in das DAK-Gebäude an der Alfred-Bozi-Straße 1, 1978 dann in das heutige Gebäude, das als Kreissparkasse errichtet worden war. Der langjährige Bibliotheksleiter Dr. Hansjörg Süberkrüb erfand in den frühen 1960er Jahren das Foto-Verbuchungsverfahren und brachte es zur Serienreife. Es wurde in zahlreichen Ländern eingeführt - und von der DDR kopiert. 1991 erreichte die Bibliothek mit einer Zentrale, 14 Filialen und einer Fahrbücherei ihren maximalen Ausbaustand. Heute befinde man sich in einer »Phase der Konsolidierung«, sagt Harald Pilzer. Es gibt nur noch acht Filialen, die Zahl der Ausleihen aber habe wieder den Stand von 1991 (1,4 Millionen) erreicht oder werde sie 2005 sogar überschreiten.

Artikel vom 25.11.2005