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Vicomte Chateaubriand

»Konservativ heißt, Festhalten an gesunden Erkenntnissen im Wandel der Zeit.«

Leitartikel
Koalition einst und jetzt

Damals war's »ein bisschen jespenstisch«


Von Jürgen Liminski
»Die Not des Landes, durch Staatsbankrott, Währungsverfall und außenpolitische Isolierung verursacht, hatte dieses Kartell der Angst der beiden großen Parteien geschmiedet.« So beschrieb der »Spiegel« vor 39 Jahren die damalige große Koalition. Demgemäß befand der scheidende Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Zusammensetzung des Kabinetts sei »schon ein bisschen jespenstisch«. Und wie steht's mit der aktuellen Neuauflage anno 2005?
Natürlich versuchten sogenannten Stimmungsexperten aus Angela Merkels Ergebnis sogleich herauszudeuten, wieviel Gramm Misstrauen im großen Koalitionscocktail wohl enthalten seien. Aber ob das überhaupt interessiert? Die Wahl war und ist das Ereignis, jetzt wird angepackt. Das heißt zunächst einmal, sich vorzustellen: Merkel in Paris, Seehofer in Brüssel, Steinmeier demnächst in Washington. Und dann? Wird es die Frau an der Regierungsspitze schaffen, fragt sich der Bürger.
Mächtig genug wäre sie. Denn man muss in der Tat schon weit zurückgreifen, um auf eine Frau zu stoßen, die in Deutschland jemals mit ähnlicher Machtfülle ausgestattet war. Deshalb verwundert es auch nicht, dass Merkel ihre Vorbilder anderswo sucht, zum Beispiel bei Katharina der Großen, die Russland regierte, ursprünglich aber aus Deutschland kam.
Nur, wird ihr das im Regierungsalltag zureichend und dauerhaft helfen? Entscheidend bei der Machtfrage sind nach aller Erfahrung weder die Vergangenheit noch die Vorbilder, sondern die Zukunftsfähigkeit.
Gewiss, aus der Vergangenheit kann man lernen, und vielleicht wurde Deutschlands frisch gekürte Kanzlerin ja schon gestern in Paris fündig, wo Chateaubriand im fernen Jahre 1818 die Zeitschrift »Le Conservateur« gründete. Ihm ging es nicht um den Sta- tus quo, sondern um das weise »Festhalten an den gesunden Erkenntnissen«, an dem Bewahrenswerten im Wandel der Zeiten.
Doch was passiert, wenn die Konservativen jene Erkenntnisse nicht mehr wahrnehmen? Wie zum Beispiel die Kraft, die einem Land aus gesunden Familien erwächst, und die Zerstörungskraft des Gegenteils?
Große Koalitionen sind nun einmal auch Sammelbecken des Unvereinbaren, damals wie heute. Ihr Erfolg oder Misserfolg ist nicht abzusehen. Der Kanzler der ersten großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, sah viele Risiken, meinte aber: »Ich würde den für einen Narren halten, der alle Konsequenzen vorauszukalkulieren versuchte.« Es scheint eine deutsche Krankheit zu sein, alle Konsequenzen bis ins Letzte vorausberechnen zu wollen. Noch größere Narren aber sind die, welche die Konsequenzen verkennen, die aus dem Verrat an der eigenen Programmatik erwachsen. Wer die prägende Handschrift der CDU in der großkoalitionären Vereinbarung vermisst, ist deswegen noch längst kein Ketzer.
Unser aller Zukunftsfähigkeit indes liegt weder in den Betrieben noch in den Parteien noch in den Gewerkschaften. Sie liegt in den Familien. Familienvergessenheit wird sich daher letztlich rächen.

Artikel vom 24.11.2005